Sittenlehre
zuvor geführt hätten, als er sie noch nicht Marita und sie ihn noch nicht Carlos genannt hatte.
Sie wird ihre Anstrengungen, die Schüler endlich zu überführen, verdoppeln. Dieser Gedanke bringt schließlich die gewünschte Betäubung, und sie schläft ein. Als sie am nächsten Morgen erwacht, ist er aber auch das erste, was ihr einfällt: Sie muß ihre Anstrengungen verdoppeln und die Schüler überführen, die heimlich auf der Toilette des Colegio rauchen. Baragli oder wen auch immer, aus der Klasse, für die sie zuständig ist, oder aus einer anderen. Ganz egal. Wichtig ist nur, daß sie den- oder diejenigen erwischt, das Vergehen meldet, dafür sorgt, daß die strenge Strafe, die den anderen zur Abschreckungdienen soll, erteilt werden kann, um dann die sicheren Glückwünsche von Herrn Biasutto entgegenzunehmen. Allerdings hat Herr Biasutto, der sie im Inneren des Colegio feierlich beglückwünschen wird, ihr da schon einmal die Hand geküßt und sie Marita genannt, so wie sie ihn Carlos genannt und ihrerseits zugelassen hat, daß er seine Lippen beziehungsweise seinen Schnurrbart an ebendiese Stelle führte. Nichts wird also so sein wie zuvor.
In den ersten beiden Stunden dieses Schultages gibt es ein von der Schulleitung veranstaltetes Konzert unter dem Titel – der auch als Motto gedacht ist – »Für den Frieden«. Ein Orgelkonzert, Ausführender: Maestro De Zorzi. Eines der vielen Dinge, auf die man im Colegio stolz ist, ist die Orgel, die einzige große Orgel mit Pfeifenwerk von ganz Buenos Aires, die nicht im Besitz einer Kirche ist. Sie befindet sich in der großen Aula des Colegio, ein prachtvoller Raum – aber nicht übertrieben prachtvoll –, wo einst, um nur ein Beispiel zu nennen, Albert Einstein persönlich einen Vortrag über die Relativitätstheorie gehalten hat. In der großen Aula gilt es, noch sorgfältiger über die Aufrechterhaltung der Disziplin zu wachen: Es handelt sich um einen sehr weitläufigen Raum, da werden die Schüler unruhig, die Regel, daß nie ein Junge neben einem Mädchen sitzen soll, läßt sich hier nicht so strikt wie sonst einhalten (man braucht bloß zu sehen, wie etwa Baragli es wieder einmal geschafft hat, den Platz genau neben Dreiman zu ergattern).
Maestro De Zorzi offeriert ein Programm, das ausschließlich der Barockmusik gewidmet ist. Bach natürlich an erster Stelle, aber auch Vivaldi kommt nicht zu kurz. Die Schüler scheinen den Fortgang der musikalischenDarbietungen einigermaßen aufmerksam zu verfolgen. Wenigstens lassen sie sich ihr mögliches Desinteresse nicht ohne weiteres anmerken, wie es auch während des gesamten Konzerts kaum je nötig wird, einen von ihnen zu ermahnen (Babenco sitzt irgendwann ganz schief auf seinem Platz, Servelli scheint krampfhaft zu versuchen, nicht laut loszulachen, Daciuk spielt mit den Schleifen an ihrer Bluse – das ist auch schon fast alles). Was das Interesse der Schüler wachhält, ist vielleicht das aufgeregte Hin und Her, das für diese Musik so charakteristisch ist. Jedesmal wenn es still wird, schicken sie sich an, Beifall zu klatschen, sehen aber zuerst zu Herrn Roel hinüber – was macht der? –, keiner möchte nämlich den peinlichen Fehler begehen, in der Pause zwischen zwei Sätzen zu applaudieren, weil er irrtümlich der Meinung ist, das Stück sei zu Ende.
Nach dem Konzert kehren die Schüler in ihre Klassenräume zurück. Anders als die wilden Tiere, von denen es heißt, durch Musik könne man sie zur Ruhe bringen, wirken die Schüler im Gegenteil ziemlich aufgekratzt. Vielleicht ist das eine Wirkung der barocken Lebensfreude, vielleicht liegt es aber auch daran, daß die Schüler es genießen, sich in der großen Aula aufzuhalten, wo alle wichtigen Ereignisse der Schule stattfinden (der Boden dort ist mit Teppich ausgelegt, die Sitze mit Cordsamt bezogen, über den Sitzreihen schweben die Logen, die Decken strahlen).
Nach der Rückkehr in die Klassenräume wird der Unterricht fortgesetzt. Kaum ist Frau Urricarriet eingetroffen – wodurch María Teresa von der alleinigen Aufsichtspflicht über die zehnte Obertertia entbunden ist –, macht sich María Teresa unverzüglich auf den Weg in RichtungKnabentoilette. Ohne die gewohnten Vorsichtsmaßnahmen außer acht zu lassen, betritt sie den Ort so rasch wie nur möglich. Drinnen wird sie von einem Gefühl des Glücks erfaßt. Sie wählt eine der Kabinen für sich aus – nicht die erste, die ist ein bißchen dreckig; die zweite. Sie geht hinein und
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