Sittenlehre
verriegelt die Tür. Erleichtert seufzt sie auf. Pinkeln muß sie nicht, weder drängt es sie dazu, noch verspürt sie besondere Lust darauf. Trotzdem zieht sie rasch den Schlüpfer aus und krempelt ihren mit Vierecken und Rhomben verzierten Rock ein ziemliches Stück hoch. Sie macht sich ans Warten, doch lange Zeit kommt kein einziger Schüler auf die Toilette. Im Anschluß an das Konzert sind die Lehrer erst einmal nicht ohne weiteres bereit, den Schülern die Erlaubnis zum Toilettengang zu erteilen. Die wichtigste Tugend, wenn man Wache steht, ist es jedoch, Geduld zu haben, das gilt für Nachtwächter genau wie für Angler an einem See. María Teresa verfügt in hohem Maße über diese Tugend. Sie ist geduldig, das war sie schon immer. In völliger Gelassenheit wartet sie ab, doch niemand kommt, und nichts geschieht.
Bis irgendwann – sie blickt gerade stillschweigend auf die schmalen Fugen zwischen den Bodenfliesen – das unverkennbare Quietschen der Schwingtür zu vernehmen ist.
Sittenlehre
Ein Schüler kommt herein, er möchte pinkeln – was auch sonst. Sie schickt sich an, zu machen, was sie in der letzten Zeit immer macht. Nackt ist sie schon (unter der Kleidung) und folglich auch bereit zu pinkeln, sobald der Schüler damit anfängt. Doch diesmal hält etwas sie zurück. Zunächst weiß sie selbst nicht, was. Sie gibt ihr Vorhaben vorläufig auf – das muß sein –, und konzentriert sich jetzt ganz darauf, was eigentlich vor sich geht. Es handelt sich um kein Geräusch, es handelt sich vielmehr um einen Geruch. Einen Geruch, der von dem Schüler ausgeht, der gerade hereingekommen ist. Vorher gab es diesen Geruch nicht, jetzt gibt es ihn, es besteht folglich kein Zweifel, diesen Geruch hat der Schüler mitgebracht. Was für ein Geruch das ist, braucht María Teresa sich gar nicht erst zu fragen: Es ist der Geruch von Colbert. Colbert für Männer, normalerweise zu kaufen in einem Glasfläschchen, das seinerseits in einer grünen Schachtel steckt. Da weiß sie Bescheid. Wie sie auch diesen Geruch nur zu genau kennt. Mittlerweile würde sie ihn unter Dutzenden anderer Gerüche erkennen, so ähnlich wie bei einer Weinprobe, als wäre sie eine ausgefuchste Kennerin. Sie ist imstande, diesen Geruch unter vielen anderen zu erkennen, und genau das hat sie gerade gemacht.
Während der Schüler vor dem Pissoir stehend an seiner Kleidung herumnestelt, stellt María Teresa sich die Frage, die sie sich einfach stellen muß. Sie fragt sich, ob der Schüler,der da gerade hereingekommen ist, der gleich zu pinkeln anfangen wird und der das Parfüm Colbert benutzt, ob dieser Schüler nicht Baragli ist. Schließlich kennt sie das Herrenparfüm Colbert und dessen unverwechselbaren Geruch durch niemand anderen als Baragli. Das heißt nicht – dafür gibt es keinen zwingenden Grund –, daß es sich bei einem Schüler des Colegio, der dieses Parfüm benutzt, automatisch um Baragli handeln muß, im Gegenteil, jeder andere Schüler, selbst aus der zehnten Obertertia, könnte genausogut dieses Parfüm benutzen. Es ist offensichtlich: Es muß sich keineswegs um Baragli handeln. Ebenso offensichtlich ist aber auch, daß es sich sehr wohl um ihn handeln kann .
María Teresa kann vieles ertragen, wohl wahr, nur mit einer Sache tut sie sich schwer: Ungewißheit. In der letzten Zeit hat sie sich wiederholt zu ihrem Wagemut beglückwünscht – daß sie sich einfach auf diese Toilette begibt, daß sie hier so lange und ausdauernd Wache hält, das ist doch was! Außerdem ist es notwendig, um ihren erklärten Vorsatz zu verwirklichen, die heimlichen Raucher an dieser Schule zu überführen. Und in der, wie ihr scheint, gleichen Absicht, wagt sie sich nun an etwas noch Kühneres und noch mehr Erfolg Versprechendes. Vielleicht übersteigt das den Rahmen ihrer ursprünglichen Spionagestrategie, kann schon sein. Dennoch schreitet sie nun mit der gleichen Sicherheit und Entschlossenheit zur Tat.
María Teresa legt den Türriegel um, mit Fingern, die so vorsichtig sind, daß sie den Vergleich mit denen eines Chirurgen oder Uhrmachers nicht zu scheuen brauchten. Die Kabinentür ist jetzt entriegelt. María Teresa gibt sie frei und läßt sie ein Stück weit nach innen aufgehen. Soverschafft sie sich auf ihrem Spähposten buchstäblich einen Durchblick. Gleich wird sie endlich ein richtiger Spion sein. Die angelehnte Tür ermöglicht ihr das nicht bloß, genau besehen verlangt sie es von ihr. Welche Gefahr María Teresa damit auf sich
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