Sittenlehre
nimmt, zieht sie nicht in Betracht, vielleicht ist es ihr auch egal. In diesem Moment will sie nur noch eins: den Kopf vorstrecken und sehen. Sehen, wer der Schüler ist, der gerade die Toilette betreten und seine Hose geöffnet hat. Sie will sehen, welcher Schüler es ist. Sie will sehen, ob es Baragli ist.
Zwischen Tür und Rahmen hat sich ein nicht mehr als zehn Zentimeter breiter Spalt aufgetan. Das reicht, auch wenn es mehr sein könnte, um den Kopf dorthin zu bewegen und hinauszusehen. Der Schlitz ist gerade breit genug, um Platz für einen schmalen Streifen ihres forschenden Gesichtes zu schaffen. Als sie ihre Spähtätigkeit aufnimmt, hält sie fast den Atem an. Sie schreitet nicht bloß mit äußerster Verschwiegenheit zur Tat, ihr eigentliches Bestreben ist es, unsichtbar zu werden. Um so ungestört sehen zu können. Sie beugt sich vor, blickt hinaus, wird unsichtbar, sieht – sieht den Schüler, der gerade auf die Toilette gekommen ist und sich nun anschickt zu pinkeln. Vor dem Pissoir stehend, natürlich, und folglich mit dem Rücken zu ihr. Aber nicht nur mit dem Rücken. Da er am ersten Pissoir steht, das am wenigsten weit von der Tür entfernt ist, befindet er sich bezüglich der Reihe der Kabinen in einem verhältnismäßig offenen Winkel. Im wesentlichen kehrt er ihr den Rücken zu, teils aber ist er auch im Profil zu sehen.
María Teresa sieht genauer hin: Es ist nicht Baragli. Das ist jetzt klar, Baragli ist es nicht. Baragli ist größer als der Junge dort, er hat einen breiteren Rücken und helleresHaar. Es ist nicht Baragli, sondern ein anderer Junge. Ein anderer Junge, in jedem Fall aber ein Junge. Ein Schüler des Colegio, der in die Knabentoilette gekommen ist, um zu pinkeln. María Teresa beobachtet ihn von ihrem Versteck aus. Es ist aber auch kein anderer Junge aus der zehnten Obertertia, für die sie zuständig ist. Wie ihr scheint – soweit sie sehen kann –, handelt es sich um einen Jungen aus der siebten Obertertia, sie hat ihn schon oft gesehen, hat aber keine Ahnung, wie er heißt. Der Schüler pinkelt. Sie sieht sein Genick, einen Streifen vom Kragen seines vorschriftsgemäß hellblauen Hemdes, den Rücken, dessen Umrisse sich unter dem blauen Sakko abzeichnen. Sie sieht seine graue Hose, sie scheint weniger straff zu sitzen, aus dem einfachen Grund, daß sie vorne offensteht. Sie sieht, wie er pinkelt, sie sieht ihn pinkeln. Sie sieht ihn zum Teil im Profil: ein Ohr, ein Stück von seinem Gesicht, zeitweilig auch die Nasenspitze. Sie sieht auch, wie er den rechten Arm hält, wie er ihn nach vorne ausgerichtet hat. Vor allem aber sieht sie den Urinstrahl, der auf das Pissoir niedergeht, dagegenschlägt, in sanften Kurven daran hinabfließt. Der Schüler hat den Kopf gesenkt, er sieht sich beim Pinkeln zu. Er sieht sein Dingsda und wie der Urin daraus hervorströmt. María Teresa, die Aufseherin der zehnten Obertertia, sieht dagegen zu, wie er pinkelt und wie er sich beim Pinkeln zusieht. Einige Sekunden später wird der Urinstrahl schwächer. María Teresa erkennt das an der Kurve, die er beschreibt. Bis der Strahl schließlich abbricht. Man könnte glauben, damit sei alles zu Ende, aber gleich darauf gibt es noch eine Art Nachspiel: drei, vier kleine Spritzer, die einen kürzeren, deshalb aber um nichts weniger energischen Bogen schlagen, der Schüler hat sie willentlich von sich gegeben,nicht umsonst ist er derjenige, der auf diesem Gebiet das Sagen hat.
María Teresa will sich schon wieder ins Innere der Kabine zurückziehen, doch etwas hält sie davon ab und rät ihr, statt dessen zu warten: Sie soll doch noch ein bißchen länger auf ihrem Spähposten ausharren. Anders als die Frauen, die das nur unterlassen, wenn sie schlecht erzogen sind, säubern sich die Männer nach dem Pinkeln nicht, und sie trocknen sich auch nicht ab. Dafür schütteln sie dieses Ding, das sie haben. Und damit fängt jetzt auch der Schüler an. María Teresa merkt es: Er bewegt den Arm, er bewegt die Hand, das sieht sie. Er bewegt auch den ganzen Körper, bis er schließlich mehr seitlich als mit dem Rücken zu ihr dasteht. Und da, wo die Hand des Jungen zu Ende ist, sieht sie jetzt auch sein Ding – sein Männerding. Und weil sie es sieht, sieht sie auch, wie es geschüttelt wird; aber wer weiß, vielleicht bildet sie sich das auch nur ein. Sie würde sich gerne vergewissern, doch das ist unmöglich. Zum Teil sieht sie es, glaubt sie, und jetzt, wo der Junge es wieder verstaut, glaubt sie, es zum
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