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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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Teil gesehen zu haben.
    Daraufhin tritt sie einen Schritt zurück, macht sich unsichtbar, denn der Junge hat seine Hose geschlossen und könnte sich nun ganz umdrehen, um zum Waschbecken zu gehen.
    Das macht er aber nicht, sondern geht geradewegs aus der Toilette. Sie verharrt noch eine Weile im Schutz ihres Verstecks, dessen Tür weiterhin bloß angelehnt ist. Plötzlich merkt sie, daß sie in die Hocke gegangen ist. Als müßte sie eine Filmhandlung nacherzählen, läßt sie vor ihrem inneren Auge noch einmal ablaufen, was gerade passiert ist. Als sie sich wieder bei Kräften fühlt, stehtsie auf, holt die Rolle mit dem Toilettenpapier aus der Handtasche, hebt den Rock an, beugt sich vor und macht sich sauber – ohne sich klarzumachen, daß sie diesmal gar nicht gepinkelt hat.
    An den folgenden Tagen verzichtet sie darauf, das Spähen bei angelehnter Kabinentür zu wiederholen. Nicht ganz, aber teilweise begreift sie, daß sie diese Möglichkeit ausschließt, weil sie darüber nachgedacht hat – auch wenn sie der Meinung ist, daß sie in einem bestimmten Moment sehr wohl wieder darauf zurückgreifen könnte. Wenn sie es schließlich nicht macht, dann weil ihr das Risiko zu hoch erscheint. Auf so ein Risiko möchte sie sich nicht einlassen, oder sie möchte sich das vielmehr aufsparen – wie ein wertvolles, aber knappes Gut, mit dem man nicht allzu verschwenderisch umgehen darf –, aufsparen für einen ganz besonderen Fall, der vielleicht schon sehr bald eintreten könnte: daß nämlich ein Schüler des Colegio die Toilette betritt, daß die Luft sich mit einem Duft erfüllt, den sie sofort erkennen wird, Colbert, und daß es sich bei diesem Schüler um Baragli handelt. Baragli, niemand sonst. An dem Tag macht sie dann vielleicht, was sie bereits einmal gemacht hat, die Tür öffnen und hinaussehen. Würde sie dagegen mit jedem Schüler, der auf die Toilette kommt, so verfahren, verringerte sich die Aussicht – das spürt sie irgendwie –, daß irgendwann tatsächlich Baragli dort erscheint.
    In den Pausen läuft sie auf dem Gang oftmals dem Schüler der siebten Obertertia über den Weg, den sie auf der Toilette gesehen hat. Dann beobachtet sie ihn – sie kann gar nicht anders – und geht manchmal sogar ein Stückchen hinter ihm her (er geht zum Kiosk, kauft einen süßen Kringel und unterhält sich dann wieder mit seinen Freunden).Lieber geht sie hinter ihm her; wenn sie ihn von vorne betrachtete, könnte sie sich nicht in den Anblick seines Nackens und des geschwungenen Rückens vertiefen. Dabei mischt sich aufs angenehmste, was sie sieht und was sie gesehen hat. Sie hört, daß die anderen den Jungen Subán nennen. So heißt er also: Subán. Bis dahin kannte sie seinen Namen nicht, gesehen hatte sie ihn aber sehr wohl, und zugesehen hatte sie ihm auch. Er mischt sich unter die anderen Jungen, lachend stellt er sich zu einer Gruppe von Mitschülern. María Teresa sieht von ferne zu, wie er unbewußt alle möglichen Handbewegungen ausführt, bis sie sich schließlich abwendet und ihre Wachrunde in einem anderen Teil des Ganges fortsetzt.
    Mehrere Tage lang geschieht bei ihren Toilettenwachen nichts Neues. Es ist interessant, zu sehen, welchen Einfluß die Gewöhnung auf sämtliche Aspekte des Lebens hat: Früher oder später macht sie sich wirklich alles zu eigen. Wie immer kommen die Schüler auf die Toilette, pinkeln oder erledigen ein größeres Geschäft, manchmal spucken sie auch ins Waschbecken, waschen sich das Gesicht, die Hände, kämmen sich – oder bringen vor dem Spiegel absichtlich ihre Frisur durcheinander – und gehen dann wieder hinaus. Was sie nicht machen, ist rauchen. Bis jetzt ist kein einziger Schüler auf der Toilette erschienen, um zu rauchen, und das bleibt vorerst auch so. Daß während der Pausen auf der Toilette ein ständiges Kommen und Gehen herrscht, erlebt Teresa, die ihre Überwachungsmission mittlerweile vollständig verinnerlicht hat, geradezu, als würde ein eigentlich für sie bestimmtes Gebiet zeitweilig besetzt. Irgendwann stellen sich die Dinge dann tatsächlich auf den Kopf: Jetzt ist nicht mehr sie diejenige, die sich unrechtmäßig in der Knabentoilette aufhält,im Gegenteil, dies gilt nun für die Schüler, die Schüler männlichen Geschlechts, die bloß für einen kurzen Augenblick an einen Ort kommen, der für sie, María Teresa, Dauer und Beständigkeit verkörpert. Diese Schüler, könnte man jetzt sagen, sind nur zu Besuch hier, während es für María

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