Sittenlehre
Abgemessen, jetzt tatsächlich in Richtung Pissoirs, allerdings nicht in der Absicht, sie zu benutzen – daß es nicht darum geht, ist klar. Diese Schritte sind vielmehr ein Teil der sorgfältigen Untersuchung, die gerade durchgeführt wird. Einige Sekunden später geht es weiter, zur gegenüberliegenden Seite, wo sich die zweite Reihe Pissoirs befindet. Als sie an ihrer Kabinentür vorbeikommen, stellt María Teresa sich instinktiv auf die Zehenspitzen, als könnten diese eher unsichtbar werden als zwei ganze Füße. Wäre sie imstande, sich zu erheben und über dem Boden zu schweben, würde sie das jetzt machen – alles, um bloß nicht von einem Blick entdeckt zu werden, der sich freiwillig auf Fußhöhe begibt. Es ist aber nicht nötig, die Schritte entfernen sich nämlich von der Kabinentür. Sie gelangen zu den gegenüberliegenden Pissoirs. Es gibt eine Pause, aber nur eine sehr kurze Pause. Die Pissoirs zu kontrollieren ist ein Kinderspiel, ein rascher Blick genügt.
María Teresa verläßt sich darauf, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gibt, daß die Inspektionsrunde damit beendet ist. Was könnte bloß bei den Pissoirs und nicht auch im Rest der Toilette zu finden sein? Sie weiß es nicht, es fällt ihr nichts ein. In jedem Falle bleibt es nicht dabei. Die Schritte lassen die Pissoirs seitlich liegen und nähernsich der ersten Kabine in der Reihe. Deren Tür ist zu (zu, aber nicht verriegelt; es ist ja niemand drin). Eine starke Hand öffnet die Tür so heftig, daß sie an die Wand knallt, abprallt und fast in ihre Ausgangsstellung zurückspringt. Die Schritte dringen ins Innere der Kabine vor, halten sich jedoch nur kurz darin auf. Jetzt kommt die zweite Kabine an die Reihe. Deren Tür ist offen. Ein Schritt reicht aus, um darin zu stehen, ein Blick genügt, um festzustellen, daß es dort nichts von Bedeutung zu sehen gibt.
Die grüne Tür der dritten Kabine ist wiederum zu (zu, aber nicht verriegelt). Sie wird nicht ganz so ungestüm geöffnet wie die erste, ein lautes Knallen wie im ersten Fall bleibt also aus. Diese Kabine ist nicht gerade sauber. María Teresa weiß Bescheid, sie hatte hineingesehen und sich dann für die vierte Kabine entschieden, die angrenzende, die, in der sie sich jetzt befindet. Die dritte ist nicht sauber: Um das Loch herum liegen unsachgemäß verwendete Papierkugeln, außerdem gibt es hier und da Reste einer überstürzten Entleerung. Eine Art Aufstöhnen ist zu hören, ein leises Fluchen. Derjenige, der es äußert, macht nun, was sie nicht gemacht hat, was sie nicht hat machen können, ohne auf ihre unzulässige Anwesenheit aufmerksam zu machen. Man hört, daß an der Kette gezogen wird, anschließend rauscht das Wasser hinab. Ersteres begleitet von einem metallischen Schlag, das zweite hört sich an, als würde eine Aufnahme der üblichen Spülung mit erhöhter Geschwindigkeit und in entsprechender Verdichtung abgespielt.
Die Schritte verlassen die dritte Kabine. Nach der dritten Kabine kommt die vierte an die Reihe, wenn hier eins nicht verloren geht, dann das Gefühl für Ordnung. In der vierten Kabine ist María Teresa. Zitternd, völlig verängstigt,am liebsten nicht mehr vorhanden, nicht glauben wollend, was da vor sich geht, steht María Teresa in der vierten Kabine. Der Inspektor weiß das nicht. Dafür weiß er, daß die Tür zu ist. Daß sie verriegelt ist, weiß er nicht, sehr wohl aber, daß sie zu ist, denn seine Schritte haben ihn, nach einem kleinen Schlenker, genau davor geführt. Die Hand drückt gegen die Tür, damit sie aufgeht wie die anderen auch. Sie geht aber nicht auf. Diese Tür geht nicht auf. Die Hand drückt fester, vielleicht klemmt die Tür ja, wegen irgendwelcher Farbabsplitterungen oder das Holz ist aufgequollen. Aber daran liegt es nicht – hier ist keine Farbe abgesplittert, kein Holz gequollen. Die Tür ist ganz einfach verriegelt, der Riegel ist vorgelegt. Deshalb weiß der Inspektor jetzt auch, daß die Tür nicht nur zu, sondern verriegelt ist. Und er weiß, daß es dafür nur eine einzige Erklärung gibt: Es befindet sich jemand hinter dieser Tür.
María Teresa möchte pinkeln, aber vor Angst.
Juvenilia
Nichts ist so wichtig wie gutes Benehmen. Zurückhaltend, kaum hörbar klopft es an die grüne Tür der vierten Kabine, unter maßvollem Einsatz der Fingerknöchel. Der arme Teufel, der da womöglich halb aufgelöst am Boden kauert, auf unsicheren Beinen, die Hosen bis zu den Knien hinuntergezogen (es muß ihm wirklich
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