Sittenlehre
oder Kunstfaser; deshalb nimmt es kaum Feuchtigkeit auf und hilft nur wenig, um die Hände trocken zu bekommen; dennoch faßt sie die Geste als offenkundige Respektsbezeugung auf.
Irgendwann sind die Hände schließlich doch trocken, oder die Feuchtigkeit hat sich wenigstens hinreichend verteilt, woraufhin María Teresa Herrn Biasutto das Tuch zurückgeben möchte. Doch der weist es ab.
»Schon gut, behalten Sie es.«
Merkwürdigerweise gefällt ihr der Gedanke, im Besitz eines Taschentuchs von Herrn Biasutto zu sein. Sie faltet es zusammen, viereckig, anders als vorher, und schiebt es sich in einen Ärmel. Wo er einmal damit angefangen hat, macht er jetzt auch weiter mit Höflichkeiten: Herr Biasutto geht voraus, aber nur, um eine der beiden Klappen der Schwingtür aufzuhalten und Maria als erste hindurchgehen zu lassen.
»Nach Ihnen.«
Sie gehen fast auf gleicher Höhe den Gang entlang zum Aufseherzimmer. Keiner sagt ein Wort. Herr Biasutto scheint zu schweigen, weil er in tiefes Grübeln versunken ist, María Teresa dagegen schweigt, weil sie zutiefst verunsichert ist. Wie froh wäre sie, wenn er noch etwas sagte, etwas, woran sie erkennen könnte, zu welcher Entscheidung er gelangt ist. Aber er sagt nichts dieser Art. Er sagt überhaupt nichts. Er hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt und starrt auf einen Punkt wenige Schritten vor sich – die typische Haltung von jemandem, der seinen Gedanken nachhängt. Wes Inhalts diese Gedanken sind, kann María Teresa nicht einmal erahnen.
Sonst passiert nichts Besonderes mehr an diesem Tag. Auch nicht an den folgenden Tagen.
Es beruhigt María Teresa, festzustellen, daß Herr Biasutto, was sie betrifft, keinerlei Maßnahmen ergriffen hat. Weder dem Studienleiter noch – was erst recht schlimm wäre – dem Vizerektor hat er von dem Vorfallberichtet, was bedeutet, daß er gegen ihre Initiative nichts einzuwenden hat. Hätte er es für notwendig gehalten, hätte er bestimmt – und ohne mit der Wimper zu zucken – eine Strafe gegen sie verhängt. Da er ein derart prinzipienfester Mensch ist, schließt María Teresa auch die Möglichkeit aus, er könne sich ihr gegenüber einfach als nachsichtig erwiesen haben: Er hat sie weder gedeckt noch ihr sonstwie seinen Schutz zukommen lassen, derlei Gedanken scheinen ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen zu sein. Wenn er keine Strafe gegen sie verfügt hat (was von einer mündlichen Ermahnung bis zur Entbindung von ihrer Aufgabe hätte gehen können), heißt das, daß er keine Einwände – wenigstens keine offenen Einwände – gegen ihr Vorgehen hat.
Die Situation war jedoch an sich so uneindeutig und kam dem, was María Teresa sich in bezug auf die Schüler vorgenommen hatte – nämlich diese auf frischer Tat zu ertappen –, so nahe, daß es ihr auch ohne zusätzliche Erklärungen angeraten scheint, ihr Vorhaben nicht weiterzuverfolgen. Sie geht also nicht mehr auf die Knabentoilette des Colegio. Auch wenn Herr Biasutto seine Mißbilligung nicht offen zum Ausdruck gebracht hat, ja selbst wenn man unter diesen Umständen versucht sein könnte, die Weisheit anzuführen, daß, wer schweigt, zuzustimmen scheint, hat Herr Biasutto sie doch, als er mitbekam, worauf sie sich einließ, um ihren Pflichten als Aufseherin noch besser nachzukommen (buchstäblich auf lauter ›Kacke und Pisse‹, wie er, ganz Mann, sagte), hat er sie daraufhin doch ebensowenig dazu ermuntert, fortzufahren. Unter diesen Umständen erscheint es María Teresa naheliegend, ja unausweichlich, die Überwachungsmission auf der Toilette endgültig einzustellen.
Sie nimmt also ihren gewöhnlichen Arbeitsalltag wieder auf, das, was eigentlich darunter zu verstehen ist. Sie bringt wieder mehr Zeit im Aufseherzimmer zu, was von keinem ihrer Kollegen irgendwie kommentiert wird, zweifellos weil diese sie niemals so sehr beachtet haben, daß ihnen der Unterschied jetzt auffallen würde. Die Tage verlieren dadurch allerdings viel von ihrem Reiz. Daß es im Leben bewegende, tiefreichende Erfahrungen geben müsse, gehörte nie zu ihren Vorstellungen, aber jetzt langweilt sie sich doch ziemlich. Auf die Frage nach dem Warum eines Arbeitstages, die sie noch vor Eintreffen im Colegio jedesmal neu beflügelte, gibt es nun keine Antwort mehr, und das hat auf ihre Tätigkeit wie auch auf ihren Gemütszustand eine wenig anregende Wirkung. Richtig ist freilich, daß sie Herrn Biasutto auf diese Weise wieder öfter zu sehen bekommt. Der Oberaufseher versieht
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