Sittenlehre
festgesetzt hat.
»Meine Arbeit.«
Herr Biasutto reißt die kleinen schwarzen Augen auf.
»Ihre Arbeit? Was soll das heißen – Ihre Arbeit?«
María Teresa preßt sich noch stärker an die verdreckte Wand.
»Ich überwache das Betragen der Schüler und ihre Einhaltung der Regeln des Colegio, Herr Biasutto.«
Herr Biasutto nickt mehrmals, als begriffe er endlich, was vor sich geht; aber die Art, wie er zu beiden Seiten seines Körpers die Hände öffnet, läßt erkennen, daß er in Wirklichkeit noch längst nicht begriffen hat.
»Und was für ein Betragen und die Einhaltung welcher Regeln überwachen Sie hier?«
María Teresa spürt, Gefahr, daß sie zu weinen anfängt, besteht nicht mehr – Herr Biasutto gibt ihr wenigstens Gelegenheit, sich zu rechtfertigen.
»Sie wissen sicher noch, daß ich Ihnen einmal von meinem Verdacht erzählt habe – daß manche Schüler heimlich im Colegio rauchen.«
»Ja, ich erinnere mich.«
»Und nachdem vor allem die Schüler solche Sachen machen, die sowieso gerne etwas anstellen, habe ich mir irgendwann gedacht, wenn sie hier so etwas machen, dann bestimmt auf der Toilette, verstehen Sie?«
»Ja.«
»Na ja, und deshalb bin ich hier. Ich verstecke mich, um sie auf frischer Tat zu ertappen.«
Herr Biasutto denkt eine Weile nach.
»Hier, wo alles voller Kacke ist und voller Pisse?«
María Teresa nickt.
»Ja.«
Herr Biasutto weicht zurück. In bezug auf seine Haltung, aber auch körperlich: Er läßt die Hände sinken und geht einen oder zwei Meter rückwärts. Auf diese Weise gibt er María Teresa zu verstehen, sie solle vorwärts gehen, weg von dem Dreck, raus da. Aber sie ist noch zu eingeschüchtert und schafft es nicht, sich in Bewegung zu setzen.
»Los, kommen Sie, raus da.«
Die geringe Helligkeit nimmt der Situation die Schärfe.
»Hören Sie, kommen Sie. Jetzt kommen Sie schon.«
Mit unsicheren Schritten verläßt María Teresa die Kabine, als hätte sie gerade ein paar Monate lang krank im Bett gelegen und machte in diesem Moment zum erstenmal wieder den Versuch, aufzustehen, um zu sehen, ob ihre Beine sie noch tragen.
»Kommen Sie, waschen Sie sich die Hände.«
Kaum erwähnt Herr Biasutto ihre Hände, wird María Teresa sich bewußt, daß sie während der ganzen Zeit in der einen Hand ihren Schlüpfer gehalten hat. Was an ihrer Gewohnheit liegt – mittlerweile ist es ihr tatsächlich zur Gewohnheit geworden –, sich den Schlüpfer auszuziehen, sobald sie die Kabine betritt. Heute hat sie einen weißen Schlüpfer ohne Spitzen angezogen, zum Glück ist er weniger auffällig als andere, die sie besitzt. Herr Biasutto hat offenbar nichts bemerkt; oder wenn doch, hat er vielleicht angenommen, es sei etwas anderes. Sie nutzt die Gelegenheit, daß er sich zu den Waschbecken umgedreht hat, um den Schlüpfer irgendwo zwischen Pullover und Rock verschwinden zu lassen. Gerne läuft sie nicht so herum,ohne untendrunter etwas anzuhaben, erst recht nicht in diesem Augenblick; aber sie hat keine andere Wahl.
Herr Biasutto dreht einen der Wasserhähne auf und fordert sie auf, näher zu treten, als stünden sie vor einem kalten Büffet und er wollte sie dazu bringen, eine besonderen Leckerbissen zu probieren. Das Geräusch des fließenden Wassers und das gedämpfte Licht tragen ihren Teil dazu bei, daß María Teresa langsam zur Ruhe kommt. Sie schiebt die Ärmel hoch, damit sie nicht naß werden, und beginnt mit dem Händewaschen. Sie reibt sie eine Weile an der Seife, bis Schaum hervortritt, und spült sie anschließend gründlich ab. Herr Biasutto sieht ihr während der ganzen Zeit zu, als wäre sie ein Kind in dem Alter, in dem man gerne schummelt, wenn es ums Waschen geht, und er wäre der Vater, der dafür sorgen muß, daß das nicht passiert.
Als sie fertig ist, fehlt ganz eindeutig etwas, womit sie sich die Hände abtrocknen könnte. Handtücher gibt es hier nicht, auch keine aus Papier. Zu María Teresas Beruhigung findet Herr Biasutto einen Ausweg und ist dabei ganz der Kavalier, als den sie ihn schon kennengelernt hat: Er zieht ein gelbes Tuch aus der oberen Tasche seines dunkelblauen Jacketts, das er dort sorgfältig gefaltet eingesteckt hatte; es paßt zu seiner Krawatte wie auch zu seinen Strümpfen (letzteres merkt María Teresa allerdings nicht). Er senkt langsam die Augenlider und macht eine angedeutete Verbeugung, während er es ihr überreicht. Sie nimmt es entgegen und bedankt sich. Es ist nicht aus Baumwolle, sondern aus einer Art Seide
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