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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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Besuchen der Knabentoilette das Gefühl, sich an einen Zufluchtsort zu begeben. Und die Kabine, in die sie sich einschließt, wird gewissermaßen zum Zufluchtsort im Inneren eines Zufluchtsortes. Für sich selbst stellt sie es natürlich lieber so dar, daß sie sich auf diese Weise in eine Lage bringt, in der sie die völlige Kontrolle über ihre Umgebung hat. Wie sie auch nie das Risiko, das sie eingeht, aus dem Bewußtsein verliert. Dennoch hat sie das Gefühl, sich an diesem Ort tatsächlich in sicherer Obhut zu befinden; der Grund dafür scheint geradezu banal: Sobaldsie sich auf die Toilette begibt, fühlt sie sich gut, auch wenn der Tag ihr bis dahin keineswegs gut erschienen war und ihr anschließend vielleicht wiederum nicht gut erscheinen wird.
    Wenn dicke Wolken den Himmel verhüllen, wie es zu dieser Zeit des Jahres häufig vorkommt, und sich überall im Colegio Düsternis breitmacht, überläßt sich María Teresa erst recht dem Gefühl, sie begebe sich durch das Aufsuchen der Toilette in einen Schutzraum. Sie könnte schwören, daß sie an solchen Tagen – an denen sich Farben und Umrisse weniger ausgeprägt präsentieren – besser hören und riechen kann. Wie man es, freilich ohne den Vergleich zu weit treiben zu wollen, ja auch von den Blinden sagt: Des Gesichtssinnes beraubt, bilden sie alle übrigen Sinne um so besser aus.
    In ihrer Kabine im Inneren der Knabentoilette geborgen, hört María Teresa alles, was es in diesem Augenblick um sie herum zu hören gibt, auch die Geräusche von außerhalb der Toilette. Es ist ein regnerischer Tag, und es scheint viel später zu sein, als es tatsächlich ist (es ist drei Uhr, und man könnte glauben, es sei schon fünf, es ist vier, aber man meint, es sei sechs Uhr). Sie hört das Seufzen der Schwingtür, es kommt also jemand herein. Sie hört jedoch nicht, was danach kommen müßte: das Geräusch von Schritten, Kleidung, die irgendwo entlangstreift, ein Ausatmen oder Hüsteln, ein Einatmen. Sie hört gar nichts. Daraus schließt sie, daß niemand in die Toilette gekommen ist, vielmehr muß, warum auch immer, sie weiß es nicht, jemand bloß kurz hineingesehen haben und dann wieder fortgegangen sein. Fortgegangen, ohne hereinzukommen. Denkt María Teresa – doch da ist wieder die Schwingtür zu hören, jetzt allerdings nicht so wieimmer, als rhythmisches und langsam leiser werdendes Quietschen, sondern als einmaliges, plötzlich abbrechendes Geräusch. Was nur eines bedeuten kann: Jemand hat die Tür angehalten, und zwar, weil er das Innere der Toilette inspizieren will.
    María Teresa denkt, wer auch immer da gerade hineinsieht, wird niemanden entdecken und folglich seiner Wege gehen. Das erwartet sie, doch das nach dem Anhalten der Tür eingetretene Schweigen zieht sich unangenehm in die Länge, was wiederum nur bedeuten kann, daß, wer auch immer sich in der Toilette umsieht, seine Sache sehr ernst nimmt. Für alle Fälle hält sie erst einmal den Atem an. Endlich ist zu hören, was zu hören sein muß, wenn die Tür wieder freigegeben wird: Derjenige, der sie festgehalten hat, hat nun losgelassen, und die Tür kann ausschwingen, wie es sich gehört. María Teresa atmet erleichtert auf, sie denkt, die Inspektion ist beendet, der Inspektor verschwunden. Doch genau da hört sie Schritte, in ihrer Nähe, im Inneren der Toilette, ohne jede Eile. Langsame Schritte, bedächtig einen Fuß vor den anderen setzend – eben so, wie jemand geht, der sich vorgenommen hat, sich an einem Ort gründlich umzusehen. Diese Person steuert nicht geradewegs die Pissoirs an, wie jemand, der zum Pinkeln gekommen ist, aber auch nicht die Kabinen. Diese Person steuert keinen Ort im besonderen an, sie macht vielmehr einen ersten allgemeinen Erkundungsgang.
    María Teresa stellt wieder einmal fest, diesmal deutlicher denn je, wie weit die untere Kante der Kabinentüren vom Fußboden entfernt ist. Der Zwischenraum ist groß genug, um jeden, der darauf achtet, ein Paar auf der anderen Seite der Tür befindliche Füße entdeckenzu lassen. María Teresa tritt ein großes Stück zurück, um der Gefahr, in dieser Weise sichtbar zu werden, so gut wie möglich zu entgehen. Daß sie sich nun an die Rückwand preßt, die normalerweise von Ausscheidungen bespritzt wird, und mit den Füßen auf dem feuchten Keramikelement mit dem Loch in der Mitte steht, ist ihr egal. Alles ist weniger schlimm, als durch den Spalt am unteren Ende der Tür entdeckt zu werden.
    Die Schritte entfernen sich.

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