Sittenlehre
schlecht gehen, andernfalls würde er warten, bis er zu Hause ist, um sein Geschäft zu erledigen), soll sich keinesfalls bedrängt fühlen, nichts wäre unangenehmer.
Es erfolgt jedoch keine Reaktion.
Da wiederholen die Fingerknöchel ihren Einsatz, vier-, fünfmal klopft es, immer noch diskret, jetzt allerdings mit etwas mehr Nachdruck. Dieses Klopfen hat es schon ein wenig eiliger, es besteht auf einer Antwort. María Teresa kann sie nicht geben. Sie kann nicht einmal ein rasches »besetzt« äußern, denn das müßte sie unweigerlich mit ihrer Frauenstimme machen oder, schlimmer noch, mit verstellter Stimme, die wie eine Person männlichen Geschlechts klingen soll, woraufhin die Katastrophe erst recht über sie hereinbrechen würde.
Da sagt sie lieber weiterhin gar nichts. Vielleicht rettet sie sich ja, indem sie schweigt. Sie rettet sich freilich nicht, denn gegen das Schweigen, an das sie sich klammert, erhebt sich eine Stimme, eine andere Stimme, die Stimme eines Mannes, eine Stimme, die sie nur zu gut kennt.
»Name, Jahrgang, Klasse.«
María Teresa stellt sich stumm, bleibt stumm.
Die Stimme beharrt, wird drängend.
»Name, Jahrgang, Klasse!«
Die Stimme gerät außer sich.
»Name! Jahrgang! Klasse!«
Die Gewalttätigkeit, die in der Stimme liegt, schüchtert María Teresa nur noch mehr ein. Das Schweigen wird zu ihrer letzten Zuflucht, mit der Kraft der Verzweiflung behält sie es bei. Einfach weiterhin schweigen, bis der aufdringliche Frager aufgibt, genug hat, weggeht, die Toilette verläßt. Vielleicht sagt er sich ja zuletzt, daß auf der anderen Seite der verriegelten Tür nichts anderes ist als ein Junge, der kackt und sich fast zu Tode schämt. Vielleicht sagt er sich das und läßt es gut sein und geht fort. Einen Augenblick lang gelingt es ihr, sich einzureden, daß genau dies geschehen wird, die fragende Stimme verstummt nämlich und entfernt sich.
So könnte es ausgehen – wie erhofft. So geht es aber nicht aus. Im Gegenteil: Die Stille war nur das Vorspiel, ein Atemholen. Das Vorspiel einer völlig unerwarteten Entscheidung. Ein heftiger Schlag geht auf die Holztür nieder. Die Tür gibt nicht nach und geht auch nicht kaputt, verrät aber, wie zerbrechlich sie ist. Sie besteht aus dünnem, unbeständigem Holz, das nicht viel aushält; zudem ist sie aus vertikal aneinandergefügten Leisten gefertigt, und von der Wucht der Attacke werden die Stellen sichtbar, an denen die Leisten auseinanderfallen könnten. Auf den ersten Schlag folgt ein zweiter, und das genügt: Es kommt zum Bruch. Genaugenommen geht jedoch nicht die Tür entzwei, sondern der Riegel. Nicht die Holzlatten, sondern der mit ein paar Schraubenschlecht befestigte Eisenbügel und das kleine Metallstück, mit dem sich die Tür verriegeln ließ. Diese beiden lösen sich, werden laut krachend aus der Verankerung gerissen, und in Sekundenschnelle zerfällt der gesamte Mechanismus in seine wenigen Bestandteile: ein gebogenes und ein gerades, längliches Eisenstück und dazu drei Schrauben (eine fehlte bereits).
Die Tür geht auf.
In gewisser Hinsicht geht sie von allein auf, oder es sieht wenigstens so aus, als ginge sie von allein auf, denn der Schlag war genaugenommen dazu bestimmt, die Verriegelung aufzuheben, nicht aber die Türe zu öffnen. Das Aufgehen der Tür vollzieht sich von selbst, einzig aufgrund des Nichtmehrvorhandenseins des Riegels, und deshalb geschieht es langsam, und es dauert lange, bis es vollzogen ist. Ganz langsam öffnet sich die Tür, und ebenso langsam kommt es beiderseits zur Offenbarung. María Teresa gefriert das Blut in den Adern, als sie aus dem Inneren der Kabine heraus die unverwechselbaren Züge von Herrn Biasutto erblickt. Seinerseits sieht Herr Biasutto mit zusammengebissenen Zähnen starr geradeaus, bis er María Teresa vor Augen hat.
Herrn Biasuttos angespanntem Gesicht ist keinerlei Erstaunen anzumerken. Diesem Gesicht ist überhaupt nichts anzumerken. Daß er so lange braucht, um auch nur ein einziges Wort hervorzubringen, läßt sich allerdings bloß seinem Erstaunen zuschreiben, ja mehr noch als seinem Erstaunen, seiner Fassungslosigkeit. Lange Sekunden verstreichen, die María Teresa damit ausfüllt, daß sie versucht, nicht in Tränen auszubrechen.
Endlich sagt Herr Biasutto etwas, allerdings öffnet er beim Sprechen kaum den Mund.
»Was machen Sie da?«
María Teresa schluckt mit einer großen Anstrengung einen Kloß aus Tränen und Speichel hinunter, der sich in ihrer Kehle
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