Sittenlehre
Teresa darum geht, zu verweilen, anwesend zu sein – ein wenig ist es für sie wie für die ständigen Bewohner eines vielbesuchten Touristenortes, wenn sich ihre Stadt bei Ferienbeginn mit auswärtigen Gästen füllt.
Ausnahmsweise kann es vorkommen, daß während der Unterrichtszeit zwei Schüler zusammen auf der Toilette erscheinen. Daß sie in dieselbe Klasse gehen, ist ausgeschlossen, kein Lehrer würde jemals erlauben, daß zwei Jungen gleichzeitig den Unterricht verlassen (aber auch ein Junge und ein Mädchen dürften nicht gleichzeitig hinausgehen – obwohl sie natürlich verschiedene Toiletten ansteuern würden –, schließlich eröffnete sich ihnen dadurch die Gelegenheit, sich zu zweit alleine auf den Gängen des Colegio aufzuhalten, was unbedingt vermieden werden muß). Falls tatsächlich einmal zwei Schüler gleichzeitig die Knabentoilette betreten, ist das nur dadurch zu erklären, daß sie rein zufällig im selben Moment ihren jeweiligen Lehrer um die Erlaubnis gebeten haben, die Klasse zu verlassen. Sie treffen sich auf dem Gang oder bereits vor der Toilettentür; vielleicht ist jeder mit seinen eigenen Dingen beschäftigt und sie beachten sich nicht und sagen kein Wort, oder aber sie nutzen die Gelegenheit und beginnen eine Unterhaltung, obgleich sie keine Freunde sind, ja sich nicht einmal näher kennen.
María Teresa wird dann in ihrem Versteck zur Mithörerin der Unterhaltungen, die zwei Schüler führen, wenn sie allein sind oder allein zu sein glauben. Normalerweisesprechen sie über die Lehrer (wer hat gerade bei wem Unterricht?), sie schimpfen oder machen sich über sie lustig. Manchmal sagen sie auch unanständige Sachen, wie so eine typisch männliche Unterhaltung eben abläuft, María Teresa hat es zu ihrem Leidwesen oft genug miterleben müssen, daß ihr Bruder zu Hause lautstark telefonierte und sich nicht darum kümmerte, daß man ihn hören konnte. Sie sagen zum Beispiel, man merke, daß die Erdkundelehrerin nie fickt oder schlecht gefickt wird, und María Teresa hört das alles und leidet nicht nur unter den Ausdrücken, die sie verwenden, sondern macht sich auch Sorgen um die Jungen in diesem Alter mit ihren erhitzten Phantasievorstellungen, sie bilden sich tatsächlich ein, derlei könne man einfach so merken, auf den ersten Blick, als gäbe es auf dieser Welt nicht so etwas wie eine Privatsphäre und eine natürliche Zurückhaltung. Zum Glück kommt derlei nur selten vor, auch weil die Lehrer in den ersten zwanzig Minuten der Unterrichtszeit keinesfalls einen Toilettengang gestatten (»Gerade war doch Pause, da hätten Sie mal früher dran denken können«) und ebensowenig in den letzten zwanzig Minuten (»Gleich ist Pause, das halten Sie schon noch aus«).
María Teresa denkt irgendwann, daß sie rauchen, wenn sie zu zweit erscheinen, sei eigentlich viel wahrscheinlicher, spielt doch bei derlei kindischen Regelverstößen eine wichtige Rolle, daß man sich gegenseitig anstachelt, schließlich möchte jeder vor dem anderen besonders draufgängerisch wirken. Doch auch wenn die Schüler zu zweit erscheinen, geschieht nichts dergleichen. Sie sprechen von allen möglichen Schlüpfrigkeiten, die sie angeblich machen oder sich bloß vorstellen, das ja, derartige Obszönitäten, daß María Teresa sie sofort wiederaus ihrem Gedächtnis verbannt, während sie sich besorgt fragt, wie schlimm es um die geistige Verfassung der Jungen dieser Altersstufe stehen mag. Worauf sie hingegen, trotz aller Hartnäckigkeit, immer noch vergeblich wartet, ist, daß sich einer einfach eine Zigarette anzündet und raucht.
Wenn sich nachmittags der Himmel, der unsichtbare Himmel draußen, bezieht – mit Wolken, die genausogut Taubenschwärme sein könnten oder große Tücher –, wird es im Colegio noch düsterer als sonst. Das Wetter ist stürmisch, ob allerdings bereits Regen auf die Stadt niedergeht, läßt sich im Inneren des Gebäudes nicht sagen. Auf den Gängen und in den Klassenzimmern, und natürlich auch auf den Toiletten, ist es jedenfalls, als würde gleich die Nacht hereinbrechen. So dunkel, daß man den Hausmeister beauftragt, das elektrische Licht einzuschalten, wird es allerdings nicht immer. Manchmal verstreicht deshalb ein ganzer Tag in einem trüben, bedrückenden Zwielicht. Dann lassen sich auf den Toiletten, wo die Milchglasscheiben der weit oben angebrachten Fenster ohnehin stets für gedämpftes Licht sorgen, die Formen nur noch erahnen. Um so mehr hat María Teresa bei ihren
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