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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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unpassenden Ort zu pinkeln, und sie entledigt sich, wohl aus ebendiesem Grund, auch keines ihrer Kleidungsstücke mehr, solange sie hier ist. Sie beschränkt sich aufs unmittelbar Nötige: Sie geht in Deckung und dort auf Horchposten. Außer Aufpassen und Warten wird sie nichts unternehmen, bisder vorbestimmte Moment kommt, in dem sie zur Tat schreiten soll. Diese Einschränkung stört sie nicht im geringsten. Höchstens dämpft sie ihre Begeisterung ein wenig, aber darüber legt sie sich keine Rechenschaft ab. Zusammen mit ihr kommen auch ihre Gedanken zur Ruhe. Sie wartet, das ist alles, was sie macht. Sie gerät nicht mehr jedesmal, wenn ein Schüler hereinkommt, in freudige Aufregung und ist deshalb anschließend auch viel weniger oft enttäuscht. Neugierig, aber nicht gierig, harrt sie dessen, was da kommt – es ist nichts dadurch gewonnen, daß man das Jagdfieber ins Unermeßliche steigen läßt. Alles zu seiner Zeit, immer mit der Ruhe.
    Nur noch zehn Tage, dann fängt der Winter an. Schon jetzt sind die letzten Spuren des Herbstes aus Buenos Aires verschwunden. Es ist sehr kalt. Das Gebäude des Colegio ist dafür eingerichtet, den unverzichtbaren Schutz zu bieten, der für ein ungehindertes Lernen nötig ist; das ist aber auch schon alles: Es geht nicht darum, für ein überzogenes Wohlgefühl zu sorgen, welches zuletzt bloß die Lernbereitschaft schwächt. Das Tragen von Handschuhen und Schals auf dem Bürgersteig vor dem Colegio ist erlaubt, diese Kleidungsstücke müssen allerdings blau sein (jedoch nicht irgendein Blau – das gleiche Blau wie das der Pullover); vor dem Betreten der Schule sind sie aber auszuziehen. Kappen oder Wollmützen dagegen sind verboten, egal ob inner- oder außerhalb des Colegio, sie beeinträchtigen das Erscheinungsbild der Schüler.
    Auf den Toiletten ist es kälter als auf den Fluren, und auf den Fluren kälter als in den Klassenräumen, wo der Unterricht abgehalten wird. Abwechselnd gehen die Schüler in Gruppen auf die Innenhöfe des Colegios – mit anderen Worten: an die freie Luft –, um sich in der Kunstdes soldatischen Paradierens zu üben, bald findet nämlich wieder die Gedenkveranstaltung zu Ehren Manuel Belgranos statt, der einst Schüler des Colegio war und später die Nationalfahne entwarf. Herr Vivot gibt durch ein Megaphon die entsprechenden metallisch klingenden Anweisungen: »Links-rechts, links-rechts, still-gestanden, halt!«
    Von den Mündern der Schüler steigen weiße Dampfwölkchen auf. Das kommt von der Kälte, genauer gesagt davon, daß ihr lauwarmer Atem unvermittelt auf die eisige Außenluft trifft. So ähnlich ist es auch auf den Toiletten. Auf den Gängen nicht, und erst recht nicht in den Klassenräumen, auf den Toiletten aber schon: Stößt man nur ein klein wenig Atemluft aus, zerfasert vor einem ein feiner weißer Schleier in der Kälte.
    María Teresa probiert es aus und erhält die Bestätigung, daß es an diesem Ort tatsächlich kalt ist und sie sich das nicht etwa einbildet, weil sie bereits mit einer Erkältung in die Schule gekommen ist. Da betritt jemand mit zügigem Schritt die Toilette. Er steuert nicht die Pissoirs an, sondern die Kabinen. Aber nicht irgendeine Kabine, sondern die einzige, die verschlossen ist – und in der befindet sich María Teresa. Und jetzt klopft er weder besonders laut noch besonders leise an die Tür, gerade so wie jemand, der ein Zimmer betreten möchte, in dem eine Person schläft und eine zweite wach ist: Er wird so klopfen, daß der, der nicht schläft, es hören kann und der, der schläft, nicht davon wach wird. María Teresa hört das Klopfen. Natürlich reagiert sie nicht darauf. Genau wie beim letzten Mal weicht sie zurück. Sie antwortet nicht und hat auch nicht vor, das zu tun.
    Da Herr Biasutto das weiß, flüstert er jetzt.
    »María Teresa, ich bin’s, machen Sie auf.«
    Da legt sie den Riegel zurück und öffnet die Tür. Herr Biasutto lächelt sie an; wie genau dieses Lächeln zu verstehen sein soll, weiß sie nicht. Einer seiner Nasenflügel zittert ein wenig, oder es sieht wenigstens so aus. Die Hände hat er verschränkt – nicht auf dem Rücken, vorn.
    »Gibt’s was Neues?«
    Eine Routineuntersuchung. Herr Biasutto, der Oberaufseher, kontrolliert die Arbeit eines weiblichen Mitglieds der von ihm geführten Truppe.
    »Bislang nicht, Herr Biasutto.«
    Herr Biasutto macht eine Bewegung, vielleicht als wollte er mit dem Finger auf etwas deuten, jedenfalls in Richtung des Inneren der

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