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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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sitzen, das ist ausgeschlossen, da können sie noch so still und stumm sein. Der Reihe nach, zuerst die Mädchen, dann die Jungen, betreten sie die Klasse und nehmen ihre Plätze ein. Um noch irgend etwas anzufangen, dafür reicht die Zeit nicht, egal was, die Zeit ist zu knapp. Um so länger ist sie, wenn man sie einfach so herumbringen soll: ohne etwas zu sagen, ohne sich zu bewegen, ziellos irgendwohin starrend.
    María Teresa müßte gleich nach ihnen den Raum betreten und sich vor den Schülern niederlassen und diesesNichtstun überwachen. Doch in dem Moment, in dem sie hineingehen will, legt Herr Biasutto einen oder zwei Finger auf ihren Unterarm und hält sie damit zurück. Sie dreht sich zu ihm um, sieht, daß er die Lider hinunterklappt.
    »Und, gibt es was Neues bei Ihnen?«
    María Teresa führt erstaunt eine Hand an den Mund.
    »Bei mir?«
    Herr Biasutto nickt.
    »Ja, bei Ihnen. Diese Sache mit den Schülern, die rauchen. Hinter denen sind Sie doch her.«
    María Teresa versteht die Frage als Kompliment. Nervös, aber geschmeichelt, antwortet sie.
    »Im Moment nicht. Vorläufig nicht.«
    Sie geht in die Klasse, fühlt sich auf einmal glücklich, versucht allerdings, sich den Stimmungswechsel vor den Schülern keinesfalls anmerken zu lassen. Was Herr Biasutto ihr soeben gesagt hat, versteht sie als das, was es im Grunde genommen auch ist: als Erlaubnis, ihre Ermittlungstätigkeit auf der Knabentoilette des Colegio fortzuführen; ja als – wenn nicht nachdrückliche, so doch unmißverständliche – Ermunterung, diese keinesfalls einzustellen.

Wachträume
    Und so bezieht sie bei der nächsten Gelegenheit wieder Stellung in der Kabine. Allzu viele Tage sind seit ihrem letzten Aufenthalt dort nicht verstrichen, eigentlich nur wenige, gerade einmal drei oder vier, die haben sich allerdings ziemlich in die Länge gezogen. Deshalb ist es bei der Rückkehr auf ihren Posten, als käme sie nach einer nicht ganz kurzen Reise zurück nach Hause oder in ihr Stadtviertel (als Kind kehrte sie einmal nach einem Monat in einem winzigen Dorf in der Provinz Córdoba nach Buenos Aires zurück und hatte plötzlich Schwierigkeiten mit den Ampeln auf der Straße und zu Hause mit dem Telefon). Im Inneren der Knabentoilette glaubt sie Anzeichen dafür zu erkennen, daß sie längere Zeit nicht dort gewesen ist, so als könnte man nicht nur durch seine Anwesenheit, sondern auch durch seine Abwesenheit persönliche Spuren an einem Ort hinterlassen.
    In keinem Moment kommt ihr der Gedanke, ein Regelverstoß in Gestalt eines oder mehrerer Schüler, die heimlich auf der Toilette rauchen, könne sich just während der Zeit ereignet haben, zu der sie die Überwachung eingestellt hatte. Undenkbar. In einem Akt der Neubestimmung von Begriffen, der ihr, dächte sie darüber nach, womöglich selbst nicht besonders einleuchtend erschiene, ist sie vielmehr der Auffassung, die Möglichkeit einer Regelverletzung außerhalb der Zeit ihrer Anwesenheit sei völlig ausgeschlossen, wo doch gerade sie diese Regelnverkörpert. In María Teresas Augen wurden nicht nur ihre Besuche auf der Knabentoilette einige Tage lang ausgesetzt, allem, was damit zu tun beziehungsweise was eigentlich den Anstoß zu ihrer Initiative gegeben hat, ging es vielmehr genauso. Diese ganze Welt in ihrer seltsamen Mischung aus kindlichem Spaß am Streichespielen, Aufsässigkeit und Wiederherstellung der Ordnung wird erst wieder zum Leben erweckt, als beziehungsweise indem sie dorthin zurückkehrt; zugleich erfährt diese Welt jedoch eine Aufwertung, betrifft María Teresas Anwesenheit dort doch von nun an nicht nur eine einfache Aufseherin, sondern diese Anwesenheit darf sich jetzt der ausdrücklichen Zustimmung durch Herrn Biasutto, den Oberaufseher, gewiß sein.
    Beim erstenmal ist sie so begeistert darüber, wieder auf der Knabentoilette zu sein, daß ihre Freude nicht im geringsten davon getrübt wird, daß kein einziger Schüler erscheint. Indem sie sich in Erinnerung ruft, wie interessiert Herr Biasutto sich an der Angelegenheit gezeigt hat, verläßt sie sich mehr denn je vertrauensvoll darauf, daß, wenn sie nur lange und oft genug dort ist, diejenigen Schüler, die heimlich im Colegio rauchen wollen, dies über kurz oder lang auch tun werden, weshalb sie sie auch eher früher als später dabei wird überraschen können.
    Nach dem kleinen Zwischenfall von vor einigen Tagen ändert sich jedoch etwas an ihrer Vorgehensweise. Sie schickt sich nicht mehr an, an diesem

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