Sittenlehre
sein Amt vor allem von diesem Raum aus, wo sich die Aufseher einfinden, während die Lehrer ihren Unterricht abhalten. María Teresa bekommt Herrn Biasutto jetzt also öfter zu Gesicht und hat mehr Gelegenheit, sich mit ihm auszutauschen. Dennoch fühlt sie sich ihm dadurch nicht näher, im Gegenteil. Was sie der Tatsache zuschreibt, daß die große Hoffnung, die sie sich in bezug auf ihn machte, verschwunden ist – sie wollte ihn überwältigen, indem sie ihm die Schüler präsentierte, die heimlich im Colegio rauchen. Dies – so erschien es ihr in ihren Träumen – hätte es ihnen erlaubt, eine wirklich dauerhafte Beziehung aufzubauen. Indem sie ihre mustergültige Überwachungstätigkeit im Stich läßt, beraubt sie auch ihre Hoffnung jedes Inhalts. Und nicht anders ergeht es ihrem zweiten Vorhaben, einer Neuauflage ihres Treffens in einem Café im Anschluß an die Arbeit, auch das scheintplötzlich kaum noch zu verwirklichen. Als wäre die Verbindung, die nach dem ersten Treffen entstanden war – María Teresa würde sie als »Brücke« bezeichnen –, durch den Vorfall in der Knabentoilette unterbrochen worden oder, um bei ihrem Bild zu bleiben, »eingestürzt«; jedenfalls macht Herr Biasutto keinerlei Anstalten, ihr erneut eine solche Verabredung vorzuschlagen. Was bei ihrem ersten Treffen angedeutet wurde, verhallt mit der Zeit als immer ferneres Echo, und bald wird es so sein – falls es nicht überhaupt schon so ist –, als hätte es derlei nie gegeben.
Währenddessen trifft aus Comodoro Rivadavia Post von Francisco ein, zwei Ansichtskarten mit Luftaufnahmen, aber richtigen Luftaufnahmen, soll heißen: Die Bilder müssen vom Flugzeug aus aufgenommen worden sein. Man sieht, wie das Ufer am Meer einfach abbricht und davor das dichte Blau des Wassers ohne eine einzige Welle, es ist so dunkel, daß es an manchen Stellen einen metallisch grauen Farbton annimmt. (Petrolblau, denkt María Teresa, bezweifelt aber, daß eine Farbe solchen Namens existiert, beziehungsweise fragt sie sich, ob sie nicht vielleicht deswegen auf den Gedanken gekommen ist, weil sie weiß, daß es in dieser Gegend große Erdölvorkommen gibt.) Ein Meer, das sehr ruhig aussieht. Nicht so umtriebig und unbeständig wie das auf den Postkarten aus Mar del Plata zum Beispiel, bei dessen Anblick man an Gelächter und fröhliche Stimmen denkt. Es liegt ruhig da, was aber kein fotografischer Effekt ist, nein, es ist still und dunkel wie ein Geheimnis, das niemals aufgeklärt werden wird. Ihr Bruder wiederum schreibt überhaupt nichts mehr: Auf der Rückseite der Karten ist alles weiß. Nichts steht darauf, nicht einmal sein Name.
Vom Colegio gibt es dieser Tage folgendes zu vermelden: Der Studienleiter hat alle Aufseher zusammengerufen, um mitzuteilen, daß mehr denn ja darauf zu achten ist, daß niemand irgendwelche politischen Abzeichen zur Schau stellt; Servelli hat gelacht, als Frau Pesotto einmal plötzlich niesen mußte, wofür sie einen doppelten Verweis erhalten hat; Capelán ist jetzt größer als Rubio, weswegen Rubio von nun an der erste in seiner Reihe ist, Rubio, der durch nichts zu erkennen gibt, daß er in Marré etwas anderes entdecken könnte als den Punkt, an dem er sich beim Abstandnehmen auszurichten hat; Herr Roel ist krank, er fällt für eine halbe Woche aus; Pullover mit rundem Ausschnitt sind nicht zulässig, was im Reglement künftig zusätzlich aufgeführt werden wird (bis dahin war man davon ausgegangen, daß es sich von selbst versteht, daß Pullover mit V-Ausschnitt gemeint sind); Costa behauptet, die kleine blaue Schleife oben am Hemd kratze, und will deshalb den obersten Knopf offenlassen, was unter keinen Umständen genehmigt wird; aufgrund eines Kurzschlusses, unmittelbar bevor am Nachmittag bei Unterrichtsende die Aufnahme von »Aurora« abgespielt werden sollte, muß das Lied a capella angestimmt werden; dabei sind zahlreiche Mißtöne zu bemerken, wie auch der Text ganz offensichtlich nicht richtig sitzt; Bosnic’ Haare sind zu lang, er muß zum Friseur; Babenco hat im Unterricht Kaugummi gekaut; Dreiman hat ihr Haar so weit unten zusammengebunden, daß sie es genausogut offen tragen könnte, deswegen muß sie zurechtgewiesen werden; die Tafel in der zehnten Obertertia quietscht seit einiger Zeit, beim Hinunter- wie beim Hinaufschieben, weswegen der Hausmeister anzuweisen ist, sie neu zu fetten.
Während der Musikstunde wird ersatzweise ein Film gezeigt, der mit dem Unterrichtsstoff zu tun hat
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