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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Kohan
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(Mozarts »Zauberflöte«). Dafür müssen die Schüler in den Vorführraum im Untergeschoß gebracht werden – was wie immer Unruhe in María Teresa hervorruft, schließlich weiß sie, daß vom Untergeschoß aus geheime Gänge an unbekannte Orte führen sollen. Man erzählt sich alle möglichen Geschichten darüber (gibt es irgendwo einen Geheimtunnel, erzählt man sich auch Geschichten darüber, das kann gar nicht anders sein): Die Priester der angrenzenden Kirche sollen sie mit unanständigen Absichten für Ausflüge benutzt haben, sie sollen aber auch zu der Zeit, als die Engländer sich des Landes bemächtigen wollten, als unterirdische Fluchtwege gedient haben. Die Rede ist außerdem von einem gescheiterten Anschlagsversuch vor einigen Jahren, allerdings wird dieser angebliche Versuch von manchen auch bestritten, die dabei unter anderem das Wort »Ausrede« gebrauchen. María Teresa weiß nur wenig darüber – daß auch Priester manchmal zu Sündern werden, weiß sie, von den Attacken der Engländer weiß sie, daß man sie mit wagemutig von oben über sie ausgekippten Eimern voll heißen Wassers in die Flucht schlug; und was Anschläge angeht, weiß sie, daß man, wenn man seinerzeit irgendwo einen herrenlosen Koffer herumstehen sah, diesen keinesfalls anrühren, geschweige denn öffnen durfte. Die Beunruhigung, die für sie von den Tunneln ausgeht, hat mit alldem jedoch nichts zu tun – das bloße Vorhandensein der Tunnel ist Grund genug. Es geht nicht darum, was sich hier womöglich einst zugetragen hat, sondern um die einfache Tatsache, daß jenseits des Bekannten und des Sichtbaren Gänge existieren, die dem Unbekannten und Unsichtbaren unterstehen.Zeitweilig fühlt sie sich versucht, einen Blick in einen der Tunnel zu werfen – ihn betreten würde sie freilich niemals. Zu groß ist die Angst, die dieses Reich der Feuchtigkeit und der Ratten in ihr hervorruft, eine Angst, die in ständigem, aber niemals entschiedenem Kampf mit der geheimnisvollen Anziehungskraft liegt, die es auf sie ausübt.
    Der Film ist lang und zeichnet sich durch keinerlei Effekthascherei aus. Aufmerksam folgen die Schüler der Handlung. Für alle Fälle hat Herr Roel wissen lassen – dafür hat er extra von seinem Krankenlager aus angerufen –, daß eine der drei Fragen der nächsten schriftlichen Prüfung mit dem Film zu tun haben wird. María Teresa läßt ab und zu den Blick über die Reihen der in den Kinosesseln sitzenden Schüler gleiten – alles in Ordnung, und so bleibt es auch bis zum Ende der Vorführung. Als das Licht wieder angeht, ist es, als würden die Schüler aus einer Hypnose erwachen.
    Die Schüler stellen sich auf, um den Raum zu verlassen. Als Gruppe dürfen sie sich innerhalb des Colegio nur in Reih und Glied und im Gleichschritt fortbewegen. María Teresa begibt sich ans Ende der Zweierreihe, um die günstigste Beobachterposition einzunehmen – von hier aus kann sie sehen, ohne gesehen zu werden. Ebendeshalb bemerkt sie beim Hinausgehen aber auch als letzte, daß Herr Biasutto an der Tür steht und wartet. Es sollte sie eigentlich nicht überraschen, daß sie den Oberaufseher dort antrifft; trotzdem ist sie überrascht. Sobald eine Klasse etwas unternimmt, was vom normalen Stundenplan abweicht – und der Besuch des Filmvorführraums im Untergeschoß ist eine solche Abweichung –, ist es nur normal, daß er dazukommt, um zu überwachen, daß allesseinen geregelten Gang nimmt. (Freilich hat das Ganze etwas Zweideutiges: Einerseits darf sich der Aufseher, welcher auch immer, durch seine Anwesenheit unterstützt fühlen; andererseits kontrolliert Herr Biasutto den betreffenden Aufseher auf diese Weise: Er kontrolliert, ob der andere so kontrolliert, wie es vorgesehen ist.)
    »Alles in Ordnung?«
    María Teresa sieht ein wenig an ihm vorbei, als sie antwortet.
    »Ja. Alles in Ordnung.«
    »Hat die Klasse gerade Musik?«
    »Ja, Musik. Herr Roel ist krank.«
    Herr Biasutto nickt und geht neben María Teresa her. Die Anwesenheit des Oberaufsehers verstärkt die Ruhe der Schüler noch. In annehmbarer Gleichzeitigkeit steigen sie die Treppe hinauf. Danach, auf dem Gang, läßt keiner die Füße schleifen, was bei jungen Leuten wie diesen, die sonst so gerne ihrer Unlust nachgeben, gar nicht so einfach zu erreichen ist.
    Obwohl es in wenigen Minuten zur Pause läuten wird, gehen die Schüler der zehnten Obertertia in ihren Klassenraum. Auf dem Gang bleiben, während die übrigen Schüler noch im Unterricht

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