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Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)

Titel: Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexandra Tobor
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auf die darbenden Kinderchen blickte, die da furchtsam im Türrahmen standen.
    »Paweł, hol die Kamera!«, rief Mama, als sie den Weihnachtsbaum erblickte. »Das glaubt uns sonst keiner.«
    Ihr dicht auf den Fersen näherte ich mich dem funkelnden Hügel, aus dem der Baum in der Zimmerecke herausragte. In schimmernder, üppiger Pracht häuften sich hier glänzende Päckchen, aus denen allerlei Tafeln, Röllchen und Tüten hervorlugten. Erst als Onkel Marek uns ermunternd zunickte, ließen wir uns am Fuße des Schatzberges nieder. Woraus der bestand! Zunächst fischte ich aus der Fülle märchenhaft verpackter Süßigkeiten eine Ananas heraus. Ich reichte sie meiner Mutter, als wäre sie aus Kristall. Die Ananas war nicht die einzige Frucht unter dem Baum. Ich begegnete einer Kokosnuss sowie Bananen, die ich bislang nur von Kannibalenröcken in Bilderbüchern kannte. Was die graubraunen, haarigen Bällchen waren, wusste ich nicht, und auch Orangen-Babys hatte ich noch nie zuvor gesehen.
    »Diese haarigen Kartoffeln heißen Kiwis«, erklärte Onkel Marek. »Und das sind keine Orangen-Babys, sondern Mandarinen. Die sind von Natur aus so klein, und ihre Schale ist so weich, dass man sie mit den Fingern schälen kann.«
    Mein Entzücken wuchs weiter, als ich Kaugummis in Form bunter Kügelchen entdeckte, die man aus einem riesigen Tablettenblister herausdrücken musste. Gierig zählte ich die Gummibärchentüten ringsum. Mit den Verpackungen würde ich nicht nur Opas Briefmarkensammlung zurückkaufen können.
    »Und was ist das?« Ich hielt eine Papptafel mit Weihnachtsmotiv hoch, in die Kästchen eingestanzt waren, nummeriert von 1 bis 24.
    »Schokolade«, antwortete Onkel Marek. »Ich weiß auch nicht, warum man sie in Dojczland so umständlich verpackt.«
    Oma, die die ganze Zeit skeptisch im Türrahmen gestanden hatte, hob neugierig das Kinn, als Onkel einen Extra-Sack hinter dem Sessel hervorholte. Daraus zog er zunächst ein Körbchen heraus, in dem verschiedene Kosmetikfläschchen, Flakons und Seifen zu einem hübschen Bouquet arrangiert waren. Als er das Körbchen Oma überreichte, konnte sie wider Willen ein glückseliges Lächeln nicht unterdrücken, und ihre Augen funkelten heiter, als sie sich daranmachte, ihre neuen Pflegeprodukte zu beschnuppern.
    Für Mama zog Onkel Marek ein Paar wildlederner Stiefel aus dem Sack. »Größe 42«, teilte er Mama mit, deren Sicht hinter dem Freudentränenschleier zu verschwimmen schien.
    Papa bekam eine digitale Armbanduhr mit eingebautem Taschenrechner, der sich mit einer stumpfen Kugelschreiberspitze bedienen ließ. Für Tomek hatte Onkel eine Zauberlampe dabei, die sich im Dunkeln drehte und dabei Sterne und Tiere an die Wände warf, und mir wurde eine herrliche Puppe überreicht, die deutsche Lieder sang, wenn man ihr kleine Schallplatten in den Hintern schob.
    An diesem Abend wurden noch viele Fotos gemacht, mit der Ananas in unserer Mitte, bevor sie als westliche Trophäe hinter Vitrinenglas kam.
    Von Papa hörten wir in den nächsten Tagen so gut wie nichts mehr. Er hatte sich im Hühnerstall eingeschlossen, um mit seiner geheimnisvollen Armbanduhr allein sein zu können. Mama begnügte sich damit, ihre neuen Stiefel an- und auszuziehen, wie um sich zu vergewissern, dass es wirklich ihre Füße waren, die da so mühelos hineinrutschten. Oma genoss ihre Kosmetik singend im Bad. Und ich dankte dem Stern, der mir am Weihnachtsabend erschienen war. Ich würde ihm folgen, denn er führte nach BRD .

6.
Das Vermächtnis des
senfgelben Winzlings
    Draußen tobte ein heftiger Schneesturm. Sie hatten wieder den Strom abgestellt. Während Oma sich mit ihren Freundinnen beim Skat-Spiel vergnügte, saßen meine Eltern mit Onkel Marek im flackernden Schein der Petroleumlampe und löffelten heißen zurek , eine Suppe aus vergorenem Roggenschrot. Ich saß mausestill unter dem Küchentisch und belauschte aufmerksam das Erwachsenengespräch.
    »Was gibt es Neues im Land?«, fragte Onkel Marek.
    »Ach … die alte Armut«, entgegnete mein Vater müde.
    »Von einem Tag auf den anderen kostet die Butter das Zehnfache«, seufzte Mama. »Wir könnten mit den Geldscheinen genauso gut heizen.«
    »Habt ihr schon mit dem Gedanken gespielt, rauszufahren?«, fragte Onkel Marek.
    »Unsinn«, entgegnete Mama. »Flucht kann doch keine Lösung sein. Einem echten Polen fällt noch in der größten Not etwas ein.«
    »Sicher«, lachte Onkel Marek. »Ihr könntet den Wert eures Geldes erhöhen,

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