Sitzen vier Polen im Auto: Teutonische Abenteuer (German Edition)
mein Problem zu sein. Trotzdem machte man sich noch über mein rollendes R lustig. Zuletzt hatte Anastasia mir einen Trick verraten, wie ich es ein für alle Mal ausmerzen konnte: Ich sollte ganz oft das Wort Fruchtkracher aussprechen, als müsste ich würgen. Das Ergebnis wäre ein hochdeutsches R. Ich trainierte jeden Tag.
Um mich nicht vor der ganzen Verwandtschaft bloßzustellen, verschickte Mama also lieber persönliche Einladungen, und ich musste ihr versprechen, dass ich bis zur Kommunion täglich Polnisch mit ihr üben würde.
Polnisch in Wort und Schrift war nicht das Einzige auf Mamas Lehrplan. Es war ihr unbegreiflich, warum man uns in der deutschen Schule ermunterte, unsere Meinung offen hinauszuposaunen – nicht die gerade angemessene Meinung, sondern das, was wir tatsächlich dachten. Unermüdlich beklagte sie meine »erschreckende Ehrlichkeit«. Mit noch größerem Eifer wies sie mich also vor dem anstehenden Besuch aus der Heimat in die Kunst der Diplomatie ein. »Ein Diplomat sagt dir, dass du offen bist, und nicht, dass du ein Loch im Kopf hast«, lautete der wichtigste Merksatz. Man durfte seinem Gegenüber außerdem nie sagen, dass er sich irrte. »Wahr ist nicht, was stimmt, sondern was den anderen nicht verletzt.« Menschen, die ihr Herz auf der Zunge trugen, konnten Freundschaften zerstören und Familien auseinandertreiben. Gute Mädchen verhielten sich anders. Und wollte ich nicht ein gutes Mädchen sein?
Opa Stefek und Oma Hilda waren die ersten Ankömmlinge. Sie hatten vier Koffer dabei. Einen für Kleidung und drei für Wurst. Während Mama die beiden durch die Wohnung führte und dabei Oma die neuen Möbel und Opa allerlei elektronische Geräte vorführte, musste Papa den alten Sperrmüll-Kühlschrank reaktivieren, um die unerwartete Fleischflut bewältigen zu können. Oma Hilda äußerte ihr Wohlgefallen in einem fortwährenden entzückten Singsang. Hier fand sie sich vom Aussiedler-Sarg bezaubert, dort staunte sie über die Lebensnähe der Efeu-Tapete. Opa Stefek war skeptisch. Die Möbel waren ihm nicht robust genug, die Tapeten zu neumodisch. Er mochte seine Wände traditionell schlesisch, regelmäßig gestrichen, ein zartes Gelb, über das ein schlichtes weißes Muster gewalzt wurde.
»Vergiss nie deine Heimat, wo deine Wiege stand«, rezitierte er mit erhobenem Zeigefinger. »Du findest in der Ferne kein zweites Heimatland!«
Am Tag drauf kam Herr Banane, der Tante Selma und Oma Greta aus Polen mitgebracht hatte. Sobald Selma über die Türschwelle getreten war, benahm sie sich wie ein Spürhund. Mit eifrigem Prüferblick beäugte sie jede Wand in jedem Zimmer.
»Fürchtet Gott«, sagte sie schließlich.
»Was ist los, Tantchen?«, fragte Mama besorgt.
»Kein einziges Bild unseres Herrn und Heilands.«
»Aber das haben wir doch alles in Polen gelassen. Ola, zeig Tante Selma, wie schön du Ave Maria spielen kannst.«
Seit kurzem hatten wir eine alte Hausorgel im Wohnzimmer stehen, ein Geschenk von Frau König, einer Nachbarin, mit der meine Eltern in gutem Kontakt standen. Papa hatte ihr eine Kuckucksuhr repariert, die mit dem Tod ihres geliebten Mannes stehengeblieben war. Aus Dankbarkeit darüber, dass die Uhr wieder schlug und mit ihr auch das Leben weiterfließen konnte, hatte Frau König uns die Orgel überlassen.
Die Kirchenlieder, die ich Selma aus dem Gehör vorklimperte, betörten und besänftigten sie so sehr, dass sie sich bald mit geschlossenen Augen zu den schiefen Orgeltönen wiegte und schwärmerisch mitsummte.
»Und, mein Täubchen«, fragte sie mich, als ich fertig war, »möchtest du immer noch Nonne werden? Als du ein kleines Mädchen warst, da wolltest du nur mit dem Herrn Jesus verheiratet sein. Erinnerst du dich?«
Ich nickte, sagte aber, dass ich noch nicht wüsste, was ich werden wolle. Ich schwärmte längst nicht mehr für Jesus, sondern für Jon Bon Jovi, der auch lange Haare hatte, aber keine plumpen Umhänge trug, sondern zerrissene Jeans und eine Lederjacke mit vielen Reißverschlüssen. Doch mit dem wollte ich genauso wenig verheiratet sein wie mit Jesus. Ich hatte aus Büchern erfahren, dass es in der Weltgeschichte auch unverheiratete Frauen gegeben hatte. Statt von Kindern beklettert am Herd zu stehen, haben sie sich Gedanken gemacht und kluge Bücher geschrieben. So wollte ich werden, aber das sagte ich Selma nicht.
Am letzten Abend vor der Kommunion versammelten sich im Wohnzimmer drei Generationen von Frauen, von denen jede auf
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