Sixteen Moons - Eine unsterbliche Liebe
gerade noch die Baumkronen hervorspitzten.
Ein vertrauter Duft wehte mir entgegen. Es roch nach Zitronen. Sie war hier.
Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht kommen.
Ich weiß.
Wir unterhielten uns, nur dass wir kein einzigesWort sprachen. Wie schon in der Schule hörte ich sie in meinem Kopf, als stünde sie neben mir und flüsterte mir ins Ohr.
Ich spürte, dass ich ihr näher kam. Hier war ein umfriedeter Garten, vielleicht sogar ein geheimer Garten, der aus einem der Bücher stammen könnte, die meine Mutter gelesen hatte, als sie in Savannah aufwuchs. Dieser Ort war schon sehr alt. An manchen Stellen war die Steinmauer brüchig, an anderen bereits eingefallen. Während ich mir einenWeg durch die dichten Ranken bahnte, die den alten Durchgang aus morschem Holz verbargen, hörte ich leisesWeinen. Ich sah mich zwischen den Büschen und Bäumen um, aber ich fand sie immer noch nicht.
»Lena?« Niemand antwortete. Meine Stimme klang fremd, als sie von dem Gemäuer widerhallte. Ich riss einen Zweig von dem Strauch neben mir ab. R o smarin. Natürlich. Und in dem Baum direkt über meinem Kopf sah ich sie: eine glatte gelbe Zitrone, perfekt gewachsen, wie aus dem Bilderbuch.
»Ich bin’s, Ethan.« Als das erstickte Schluchzen lauter wurde, wusste ich, dass ich die richtige Richtung eingeschlagen hatte.
»Ich hab dir doch gesagt, geh weg.« Sie klang dumpf, so als wäre sie erkältet; wahrscheinlich weinte sie schon, seit sie aus dem Klassenzimmer gelaufen war.
»Ich weiß, ich habe dich gehört.« Es stimmte, auch wenn ich es nicht erklären konnte. Langsam ging ich um den wilden R o smarin herum und stolperte dabei über dickeWurzeln.
»Wirklich?« Sie klang neugierig und war für einen Augenblick abgelenkt.
»Wirklich.« Es war wie in meinenTräumen, ich hörte ihre Stimme, nur dass Lena diesmal irgendwo in diesem verwahrlosten Garten weinte und nicht hilflos meinen Händen entglitt.
Ich schob ein Gewirr von Zweigen beiseite. Da war sie. Sie hatte sich im hohen Gras zusammengerollt und starrte in den Himmel. Einen Arm hatte sie über die Stirn gelegt, mit der anderen Hand hielt sie sich am Gras fest, als fürchtete sie wegzufliegen, sobald sie losließ. Ihr graues Kleid bauschte sich um ihren Körper, ihr Gesicht war tränenüberströmt.
»Warum hast du es dann nicht gemacht?«
»Was?«
»Warum bist du nicht weggegangen?«
»Ich wollte sehen, wie’s dir geht.« Ich setzte mich neben sie. Die Erde war unerwartet hart. Ich tastete den Boden unter mir ab und stellte fest, dass ich auf einer glatten Steinplatte saß, die in den feuchten Untergrund gesunken und völlig überwuchert war.
Als ich mich auf den R ücken legen wollte, setzte sie sich auf. Ich richtete mich auf und sie ließ sich wieder auf den R ücken fallen. Ungeschickt von mir. Aber in ihrer Gegenwart war ich das ja immer.
Jetzt lagen wir beide auf dem R ücken und schauten in den blauen Himmel. Er wechselte langsam ins Grau, die übliche Farbe hier in Gatlin während der Hurrikan-Saison.
»Alle hassen mich.«
»Nicht alle. Ich nicht. Und Link auch nicht, mein bester Freund.«
Schweigen.
»Du kennst mich doch gar nicht.Warte eineWeile, dann hasst du mich bestimmt auch.«
»Ich hätte dich beinahe überfahren, weißt du nicht mehr? Ich muss doch nett zu dir sein, damit du mich nicht einsperren lässt.«
Es war ein lahmer Witz. Aber da war es: das flüchtigste Lächeln, das ich je gesehen hatte.
»Das steht ganz oben auf meiner Liste. Ich werde dich bei dem fetten Kerl anzeigen, der den ganzenTag vor dem Supermarkt herumlungert.« Sie blickte wieder zum Himmel hoch. Ich nicht, ich betrachtete sie.
»Gib ihnen eine Chance. Sie sind nicht alle so gemein. Zugegeben, im Moment sind sie es schon. Sie sind einfach neidisch. Das weißt du, oder?«
»Ja, sicher doch.«
»Sie sind neidisch, ganz bestimmt. Ich bin es auch.«
Sie schüttelte den Kopf. »Dann bist du verrückt. Es gibt nichts, worum man mich beneiden müsste, es sei denn, du bist scharf darauf, beim Essen immer alleine zu sitzen.«
»Du bist schon überall gewesen.«
Ihr Blick war ausdruckslos. »Na und? Du bist wahrscheinlich immer in dieselbe Schule gegangen und hast dein ganzes Leben lang im selben Haus gewohnt.«
»Genau. Und das ist mein Problem.«
»Glaub mir, das ist kein Problem. Mit Problemen kenne ich mich nämlich aus.«
»Du bist weit herumgekommen, hast viel gesehen. Ich würde wer weiß was dafür geben.«
»Ja, aber ich war immer allein. Du hast einen
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