Sixteen Moons - Eine unsterbliche Liebe
balancierte. Aber noch ehe ich den Knauf berührte, hörte ich, wie sich das Schloss klickend umdrehte. Die Tür sprang von ganz allein auf, so als hätte sie jemand im Inneren des Zimmers für mich aufgemacht. Die Plätzchen fielen zu Boden.
Noch vor einem Monat hätte ich das nicht geglaubt, aber jetzt wusste ich es besser. Das war Gatlin. Nicht das Gatlin, das ich zu kennen geglaubt hatte, sondern ein anderes Gatlin, das anscheinend schon immer offen vor mir gelegen, das ich aber niemals wahrgenommen hatte. Eine Stadt, in der das Mädchen, das ich sehr gern hatte, aus einem alten Geschlecht von Castern stammte, in der unsere Haushälterin eine Seherin war, die im Sumpf die Zukunft aus Hühnerknochen las und die Geister ihrer verstorbenenVorfahren zu sich rief, und in der sogar meinVater sich benahm wie einVampir.
In diesem Gatlin gab es nichts, was zu unwahrscheinlich gewesen wäre. Komisch, wie man sein ganzes Leben hier verbringen konnte, ohne es zu bemerken.
Ich stieß die Tür auf, langsam, zögernd, und warf einen Blick in das Arbeitszimmer. Ich sah die Ecke mit den eingebauten Bücherschränken, die mit Mutters Büchern vollgestopft waren und all den Überbleibseln aus dem Bürgerkrieg, die sie auf Schritt undTritt gesammelt hatte. Ich sog die Luft tief ein. KeinWunder, dass meinVater diesen Raum nie verließ.
Ich konnte meine Mutter beinahe vor mir sehen, wie sie gemütlich in ihrem alten Lesesessel am Fenster saß. Auf der anderen Seite der Tür hatte sie immer auf ihrer Schreibmaschine getippt.Wenn ich die Tür einen Spalt weiter aufstieß, müsste ich sie jetzt eigentlich dort sitzen sehen. Aber da war kein Tippen zu hören, und ich wusste genau, dass sie nicht da war, dass sie nie wieder da sein würde.
In den R egalen standen die Bücher, die ich gebraucht hätte.Wenn irgendwer hier in Gatlin mehr über die Geschichte der Stadt wusste als die Schwestern, dann war es meine Mom gewesen. Ich trat einen Schritt vor und stieß die Tür nur ein paar Zentimeter weiter auf.
»Bei allen himmlischen Heerscharen! EthanWate, wenn du vorhaben solltest, auch nur einen Fuß in diesen Raum zu setzen, dann wird dir deinVater eine solcheTracht Prügel verabreichen, dass du es nächsteWoche noch spürst.«
Beinahe hätte ich die Milchtüte fallen gelassen. Amma. »Ich hab gar nichts getan. Die Tür ist von selbst aufgegangen.«
»Schäm dich. Kein Geist in Gatlin würde es wagen, einen Fuß in das Arbeitszimmer deiner Mutter und deinesVaters zu setzen, es sei denn, deine Mutter selbst.« Sie musterte mich eindringlich. Es war ein Blick, bei dem ich mich fragte, ob sie mir nicht etwas sagen wollte, vielleicht sogar dieWahrheit. Vielleicht war es ja tatsächlich meine Mutter gewesen, die mir die Tür aufgemacht hatte.
Denn eines war klar: Irgendjemand oder irgendetwas wollte, dass ich dieses Arbeitszimmer betrat, und zwar ebenso sehr, wie etwas anderes dies zu verhindern suchte.
Amma schlug die Tür zu, zog einen Schlüssel aus ihrerTasche und schloss ab. Ich hörte, wie das Schloss einschnappte, und begriff, dass damit auch eine einmalige Chance vertan war, die sich unverhofft aufgetan und genauso schnell wieder in Nichts aufgelöst hatte.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Morgen ist Schule. Hast du nicht noch zu tun?«
Ich sah sie verständnislos an.
»Wolltest du nicht wieder in die Bibliothek? Seid ihr beiden, Link und du, schon mit eurem R eferat fertig?«
Und da fiel es mir wieder ein. »Ja, stimmt genau, die Bibliothek. Da will ich gerade hingehen.« Ich gab ihr einen Kuss auf dieWange und stürmte an ihr vorbei.
»Sag Marian einen schönen Gruß von mir und komm nicht zu spät zum Abendessen.«
Die gute, alte Amma. Sie hatte immer die richtige Antwort parat, ob mit oder ohne Absicht, ob freiwillig oder unfreiwillig.
Lena wartete auf dem Parkplatz vor der Stadtbücherei von Gatlin auf mich. Der rissige Betonboden war noch nass und glänzte vom R egen. Obwohl die Bibliothek noch zwei Stunden geöffnet hatte, war der Leichenwagen das einzige Auto auf dem Parkplatz außer einem wohlbekannten, alten türkisfarbenen Lieferwagen. Man konnte auch nicht gerade behaupten, dass diese Stadt berühmt gewesen wäre für ihre Bibliothek. Und es gab auch nicht viel, was man hier über Städte wissen wollte, höchstens über die eigene Stadt, und wenn der Großvater oder der Urgroßvater etwas nicht wusste, dann brauchte man es wahrscheinlich auch gar nicht zu wissen.
Lena hatte sich dicht an die Mauer
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