Sixteen Moons - Eine unsterbliche Liebe
gekommen, und ich vermute, dieser Grund kann nur die Nichte von Macon Ravenwood sein.Weshalb verziehen wir uns nicht ins Hinterzimmer, machen eine KanneTee und gehen den Dingen auf den Grund?« Marian liebteWortspielereien.
»Es ist eigentlich eher eine Frage.« Ich griff in meine Hosentasche und tastete nach dem Medaillon, das immer noch in dasTaschentuch von Sulla, derWeissagerin, eingewickelt war.
»Frage nach allem. Nimm maßvoll Lehren an. Antworte nichts.«
»Homer?«
»Euripides. Du solltest dir allmählich etwas einfallen lassen, EW, oder ich muss wirklich einmal mit der Schulbehörde reden, wenn du mir bei so etwas die Antwort schuldig bleibst.«
»Aber du hast doch eben selbst gesagt, ich solle nicht antworten.«
Sie schloss eine Tür mit der Aufschrift PRIVATARCHIV auf. »Habe ich das gesagt?«
Marian schien, genau wie Amma, immer die richtige Antwort parat zu haben. Wie jeder gute Bibliothekar.
Wie meine Mutter.
Ich war noch nie in Marians Privatarchiv im Hinterzimmer der Bibliothek gewesen.Wenn ich so darüber nachdachte, dann kannte ich niemanden, der je dort gewesen wäre, niemanden außer meiner Mom. Das war ihrer beider Zimmer gewesen, hier schrieben und forschten sie, und wer weiß, was sie sonst noch hier getan haben. Nicht einmal mein Dad durfte dieses Zimmer betreten. Ich erinnerte mich daran, wie Marian ihn einmal an der Tür zurückgehalten hatte, als meine Mutter in dem Zimmer alte Aufzeichnungen studierte. »Privat heißt privat«, hatte sie damals gesagt.
»Das hier ist eine Bibliothek, Marian«, hatte meinVater protestiert. »Bibliotheken wurden errichtet, damit alle Zugang zum Wissen haben.«
»Hier in dieser Gegend wurden die Bibliotheken errichtet, damit die Anonymen Alkoholiker einen Platz hatten, an dem sie sich treffen konnten, wenn die Baptisten sie rausgeworfen hatten.«
»Marian, sei nicht albern. Es ist doch nur ein Archiv.«
»Betrachte mich nicht als Bibliothekarin. Stell dir vor, ich wäre eine verrückte Wissenschaftlerin und dies hier wäre mein geheimes Laboratorium.«
»Du bist närrisch. Ihr zwei stöbert doch nur in verknittertem altem Papier.«
»Wenn man dem Wind seine Geheimnisse anvertraut, darf man sich nicht wundern, wenn die Bäume sie kennen.«
»Das stammt von Khalil Gibran«, konterte er.
»Drei Menschen können nur dann ein Geheimnis bewahren, wenn zwei von ihnen tot sind.«
»Benjamin Franklin.«
Schließlich hatte es selbst meinVater aufgegeben, das Archiv zu betreten. Wir fuhren damals nach Hause und aßen Schokoladeneis und von da an kamen mir Marian und meine Mutter immer wie eine unbezwingbare Naturgewalt vor. Zwei verrückte Wissenschaftler, wie Marian selbst gesagt hatte, die aneinander gekettet in ihrem Laboratorium saßen und ein Buch nach dem anderen schrieben. Eines davon schaffte es sogar in die engere Auswahl für denVoice-of-the-South-Preis, der hier in den Südstaaten etwa genauso bedeutend war wie der Pulitzer-Preis. Mein Dad war mächtig stolz auf Mom, eigentlich auf alle beide. Sie sei eben ein »hellwacher Kopf«, sagte er immer über Mom, besonders dann, wenn sie mal wieder mitten in einem Projekt steckte. Sie war dann noch geistesabwesender als sonst, trotzdem schien er sie dann auch am meisten zu lieben.
Und nun war ich hier, in diesem privaten Archiv, und weder meinVater noch meine Mutter waren dabei, nicht einmal eine Kugel Schokoladeneis war in Sicht. Dafür dass wir in einer Stadt lebten, in der sich eigentlich nie etwas änderte, hatte sich sehr viel getan in der letzten Zeit.
Der Raum war getäfelt, und es war dunkel darin; es war der abgeschlossenste, stickigste Raum, noch dazu ohne Fenster, in dem drittältesten Haus von Gatlin. In der Mitte des Raums standen vier lange Eichentische nebeneinander. Jedes FleckchenWand war mit R egalen vollgestellt, in denen sich Bücher türmten. Geschütze und ihre Munition im Bürgerkrieg. König Baumwolle: Das weiße Gold des Südens. In flachen Metallschubladen wurde Handgeschriebenes aufbewahrt, und in einem kleineren Zimmer, das sich an den hinterenTeil des Archivs anschloss, quollen die Aktenschränke über.
Marian machte sich mit einerTeekanne an der Kochplatte zu schaffen. Lena ging zu derWand mit den gerahmten Landkarten der Umgebung von Gatlin, die sich hinter dem Glas wellten und so alt waren wie die Schwestern.
»Schau, da ist Ravenwood.« Lena fuhr mit dem Finger über das Glas. »Und hier ist Greenbrier. Auf dieser Karte erkennt man die Grundstücksgrenzen viel
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