Sixteen Moons - Eine unsterbliche Liebe
der Bibliothek gelehnt und schrieb in ihren Notizblock. Sie trug eine abgewetzte Jeans, riesige Gummistiefel und ein flauschiges schwarzes T-Shirt. Kleine Zöpfe, die zwischen ihren vielen Locken gar nicht auffielen, umschmeichelten ihr Gesicht. Sie sah fast wie ein normales Mädchen aus. Aber ich war mir nicht sicher, ob ich ein ganz normales Mädchen wollte. Ich wusste nur, dass ich sie wieder küssen wollte. Aber das musste warten.Wenn Marian die Antworten auf unsere Fragen hatte, dann würde ich noch viele Gelegenheiten haben, Lena zu küssen.
Ich ging im Geist wieder die Spielzüge durch: Blocken und Abrollen.
»Glaubst du wirklich, hier gibt es etwas, das uns weiterhelfen kann?« Lena warf mir über ihren Notizblock einen Blick zu.
Ich zog sie an mich. »Nicht etwas. Jemanden.«
Die Bibliothek war wunderschön. Als Kind hatte ich hier so viele Stunden verbracht, dass ich ebenso wie meine Mutter überzeugt war, eine Bibliothek sei so etwas wie ein Gotteshaus. Und diese Bibliothek war noch dazu eines der wenigen Gebäude, die Shermans Marsch und den großen Brand überstanden hatten. Die Bibliothek und das Haus der Historischen Gesellschaft waren die beiden ältesten Gebäude der Stadt, abgesehen von Ravenwood. Es war ein zweigeschossiges, ehrwürdiges viktorianisches Haus, alt und verwittert, die weiße Farbe blätterte ab, und über viele Jahrzehnte gewachsene dichte Ranken streckten sich auf Türen und Fenster aus. Es roch nach altem Holz undTeeröl, nach Plastikeinbänden und vergilbtem Papier. Der Geruch vergilbten Papiers, pflegte meine Mutter zu sagen, war der Geruch der Zeit selbst.
»Ich verstehe nicht.Weshalb ausgerechnet die Bibliothek?«
»Es geht nicht nur um die Bibliothek, es geht um Marian Ashcroft.«
»Die Bibliothekarin? Die Freundin von Macon?«
»Marian war die beste Freundin meiner Mutter, sie haben gemeinsam geforscht. Nur sie weiß so viel über Gatlin, wie meine Mom wusste, und jetzt ist sie der klügste Mensch in der ganzen Stadt.«
Lena warf mir einen skeptischen Blick zu. »Klüger als Onkel Macon?«
»Okay, sie ist die klügste Sterbliche in der ganzen Stadt.«
Ich habe nie richtig verstanden, was jemand wie Marian in einer Stadt wie Gatlin suchte.
»Nur weil man dort lebt, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen«, hatte Marian mir oft erklärt, wenn wir zusammen mit Mom einThunfisch-Sandwich aßen, »heißt das noch lange nicht, dass man nicht darüber Bescheid wissen sollte, wo man lebt.« Ich hatte keine Ahnung, was sie damit meinte. Ich begriff überhaupt die Hälfte der Zeit nicht, worüber sie redete.Wahrscheinlich war das auch der Grund, weshalb Marian und meine Mutter so gut miteinander auskamen; denn die andere Hälfte der Zeit begriff ich nicht, wovon meine Mutter sprach. Wie schon gesagt: Sie war die klügste Frau in der Stadt, zumindest aber die bemerkenswerteste Persönlichkeit.
Als wir die menschenleere Bibliothek betraten, lief Marian in Strümpfen zwischen Bücherstapeln umher und führte mit klagender Stimme Selbstgespräche wie eineWahnsinnige in einer griechischenTragödie, aus denen sie so gerne zitierte. Da die Bibliothek meistens wie eine Geisterstadt war – abgesehen von den gelegentlichen Besuchen der Damen von der TAR , die einen zweifelhaften Stammbaum überprüfen wollten –, konnte Marian hier tun und lassen, was sie wollte.
»Weißt du etwas …«
Ich folgte der Stimme bis in die hintersten R egale.
»… hast du gehört es …«
Ich bog in die R egalreihe ein, in der die erzählende Literatur versammelt war. Da stand sie, hielt einen schwankenden Stapel Bücher in den Armen und schaute geradewegs durch mich hindurch.
»… oder weißt du nicht …«
Lena trat hinter mich.
»… wie auf die Lieben kommet Feindesübel?«
Marian spähte über ihre quadratische rote Brille hinweg und blickte abwechselnd auf mich und Lena. Sie war da, aber auch wieder nicht. Ich kannte diesen Blick gut, und ich wusste, dass sie, obwohl sie ständig in Zitaten sprach, nie etwas leichtfertig von sich gab.Welches Übel kam auf mich zu oder auf meine Freunde?Wenn Lena dieser Freund war, dann war ich mir nicht sicher, ob ich es wissen wollte.
Ich hatte viel gelesen, aber keine griechischenTragödien. »Oedipus?«
Ich umarmte Marian über ihren Bücherstapel hinweg. Sie drückte mich so fest an sich, dass ich keine Luft mehr bekam, eine dickleibige Biografie von General Sherman stach mir in die Rippen.
»Antigone «, sagte Lena von
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