Sixteen Moons - Eine unsterbliche Liebe
heraufbeschwört.«
Genevieve packte die alte Frau an den Schultern. »Ivy, das ist die einzige Möglichkeit. Du musst es mir geben.«
»Ihr wisst nicht, worum Ihr mich bittet. Ihr wisst gar nichts über das Buch …«
»Gib es mir oder ich mache mich selbst auf die Suche danach.«
Schwarze Rauchwolken stiegen hinter ihnen auf, das Feuer zischte noch immer und verschlang, was vom Hause übrig geblieben war.
Ivy gab nach, raffte ihre zerrissenen Röcke und führte Genevieve weg von dem Ort, der früher einmal der Zitronenhain ihrer Mutter gewesen war. Weiter als bis hierher war Genevieve nie gekommen. Hinter diesem Hain gab es nichts als Baumwollfelder, zumindest hatte man ihr das immer gesagt. Und es hatte sie nie in diese Felder gezogen, außer bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie und Evangeline Verstecken gespielt hatten.
Ivy schritt zielstrebig voran. Sie wusste genau, wohin sie ging. In der Ferne hörte Genevieve noch immer Gewehrschüsse und die gellenden Schreie ihrer Nachbarn, die mit ansehen mussten, wie ihre Häuser niederbrannten.
Ivy blieb in der Nähe eines Wildwuchses aus Schlingpflanzen, Rosmarin und Jasmin stehen, die an einer alten steinernen Wand hinaufrankten. Sie verdeckten fast einen schmalen Durchgang. Ivy bückte sich und ging hindurch. Genevieve folgte ihr. Der Torbogen musste einst zu einer großen Mauer gehört haben, die den Ort kreisrund begrenzte.
»Wo sind wir hier?«
»An einem Ort, den Eure Mutter vor Euch geheim halten wollte, sonst würdet Ihr wissen, wozu er dient.«
In einiger Entfernung sah Genevieve kleine Steine aus der Erde emporragen. Natürlich. Es war der Friedhof der Familie. Genevieve erinnerte sich, schon einmal hier gewesen zu sein, damals war sie noch sehr jung gewesen, und ihre Großmutter war gerade gestorben. Die Beerdigung hatte in der Nacht stattgefunden, ihre Mutter hatte, vom Mondlicht beschienen, im hohen Gras gestanden und Worte in einer Sprache geflüstert, die Genevieve und ihre Schwester nicht kannten. »Was suchen wir hier?«
»Ihr wollt doch das Buch, oder nicht?«
»Es ist hier draußen?«
Ivy blieb stehen und blickte Genevieve erstaunt an. »Wo sonst sollte es sein?«
Ein Stück weiter stand ein fast völlig überwuchertes Bauwerk. Es war eine Gruft. Ivy blieb am Eingang stehen. »Seid Ihr sicher, dass …«
»Dafür haben wir jetzt keine Zeit!« Genevieve wollte die Tür öffnen, aber da war kein Türknauf. »Wie geht sie auf?«
Die alte Frau stellte sich auf die Zehenspitzen und tastete über der Tür. Im Feuerschein aus der Ferne konnte Genevieve dort einen kleinen, glatten Stein erkennen, in den eine Mondsichel eingemeißelt war. Ivy legte die Hand auf den Mond und drückte dagegen. Die Tür bewegte sich und öffnete sich knirschend, Stein schleifte auf Stein. Ivy griff nach etwas auf der anderen Seite des Eingangs. Eine Kerze.
Ihr Licht erleuchtete den kleinen Raum. Er maß höchstens ein paar Schritt im Durchmesser. Aber auf jeder Seite standen alte Holzregale, auf denen sich Röhrchen und Fläschchen mit Blüten, Pülverchen und trüben Tinkturen reihten. In der Mitte des Raums befand sich ein verwitterter Steintisch, auf dem ein altes Holzkistchen lag. Es war in jeder Hinsicht schmucklos, die einzige Zierde war eine winzige Mondsichel, die in den Deckel eingraviert war und die genauso aussah wie die Mondsichel auf dem Stein über der Tür.
»Ich rühr es nicht an«, sagte Ivy leise, als fürchtete sie, das Holzkistchen könne sie hören.
»Ivy, es ist doch nur ein Buch.«
»Es ist nicht nur ein Buch, und am allerwenigsten in Eurer Familie.«
Genevieve hob den Deckel sachte an. Das Buch war in schwarzes Leder gebunden, das schon Risse bekommen hatte, es sah eher grau als schwarz aus. Es trug keine Aufschrift, aber auch hier war der kleine Mond auf den Einband geprägt. Zögernd hob Genevieve das Buch heraus. Ivy war sehr abergläubisch. Aber obwohl Genevieve sich über die Alte lustig gemacht hatte, wusste sie doch auch, dass sie eine weise Frau war. Sie las die Zukunft aus Karten und Teeblättern, und Genevieves Mutter fragte Ivy fast in jeder Angelegenheit um Rat, zum Beispiel wann der beste Zeitpunkt war, um Gemüse zu pflanzen, damit es nicht erfror, oder mit welchen Kräutern man wirksam eine Erkältung kurierte.
Das Buch fühlte sich warm an. Als ob es lebte, atmete.
»Warum hat es keinen Titel?«, fragte Genevieve.
Ivy schnaubte. »Nur weil ein Buch keinen Titel hat, heißt das nicht, dass es keinen Namen hat. Das
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