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Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute

Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute

Titel: Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker Reinhardt , Michael Sommer
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jene festgesetzt haben, die sich ihren richterlichen Pflichten in der Polis zu entziehen suchten. Er ist damit ein Gewährsmann für die beginnende Institutionalisierung der Polis und ihres Schlichtungswesens, das nach bürgerschaftlichem Engagement verlangte. Das Gesetz privilegierte die breite Masse, der es die Möglichkeit gab, ein Richteramt zu umgehen, vor den wenigen Vermögenden, |52| denen es keine Wahl bot. Rechtskodizes wie der des Charondas beschnitten die zuvor nahezu grenzenlose Macht der Großen; sie geboten der Blutrache Einhalt und schufen, wiewohl rudimentäre, Mechanismen, welche die Schwachen gegen Übergriffe der Starken in Schutz nahmen – und das durchaus mit Erfolg: Außer seiner Heimatstadt Katane übernahmen jedenfalls auch andere chalkidische Gemeinden Siziliens Charondas’ Rechtssatzung.
    Falls in dem Aristoteles-Bericht über Charondas ein wahrer Kern steckt, greifen wir hier möglicherweise den Beginn sozialer Konflikte, die bald das ganze griechische Sizilien erschütterten. Erste Nutznießer des Wandels waren die grundbesitzenden Mittelschichten, die als in der Phalanx kämpfende Hopliten faktisch den bewaffneten Arm der Polis bildeten. Sie erkämpften sich im 7. Jh., im Mutterland wie in der Diaspora, gegen die Aristokraten die politische Teilhabe, während Besitzlose und Fremde überall ausgeschlossen blieben.
    Es gab aber in den Kolonien noch weitere, die Gesellschaft tiefer spaltende Verteilungskonflikte: Allenthalben bildeten die Nachfahren der Gründergeneration eine exklusive Aristokratie – in Syrakus nannten sie sich
gamoroi
, Landlosbesitzer. Demgegenüber waren Nachzügler minderprivilegiert; sie erhielten, wenn sie überhaupt bei der Landverteilung zum Zuge kamen, schlechtere und kleinere Parzellen. Ungleichheit schuf ein Potential der Unzufriedenheit, und die entlud sich immer wieder in Unfrieden. Und in einer Atmosphäre inneren Unfriedens – die Griechen sprachen von Stasis – kochte manch einer sein eigenes politisches Süppchen: Wie im griechischen Mutterland gab es auch in den Diaspora-Poleis immer mehr Große, die sich nicht vom aristokratischen Konsens und den Institutionen ihrer Gemeinde bändigen lassen wollten. Sie strebten nach der ganzen Macht in ihrer Stadt, und auf dem Weg nach oben war ihnen meist jedes Mittel recht.
    Tyrannis
    Stasis konnte in bürgerkriegsartige Unruhen eskalieren. Ehrgeizige Aristokraten scharten dann Gefolgschaften aus verbündeten Adligen und Unzufriedenen um sich, mit denen sie auf ihre Gegner losgingen. Erklärtes Ziel war deren Vernichtung, und um dieses Ziel zu erreichen, griff man gern auch auf den Beistand auswärtiger Mächte zurück. Hatte man erfolgreich alle Gegner aus dem Feld geschlagen, so konnte man getrost nach der schrankenlosen Macht in der Polis greifen: Eine Tyrannis war errichtet. Anfangs bezeichnete der Begriff ganz nüchtern die Alleinherrschaft eines einzelnen Mannes; erst allmählich kam die Vorstellung |53| hinzu, ein Tyrann sei ein illegitimer Despot. Machtmissbrauch und Freiheitspathos diskreditierten das System Tyrannis im griechischen Mutterland – bemerkenswerterweise aber nicht in Sizilien.
    Als erster Grieche hatte sich Mitte des 7. Jh. der wohlhabende Aristokrat Kypselos in seiner Heimatstadt Korinth zum Tyrannen aufgeschwungen. Ihm folgten andere: Theagenis in Megara, Kylon – der indes scheiterte – und Peisistratos in Athen, Lygdamis auf Naxos, Kleobulos im rhodischen Lindos und Polykrates auf der Insel Samos. Fast alle versuchten sie, in der Manier von Königen, ihre Herrschaft dynastisch abzusichern. Kypselos gab die Tyrannis an seinen Sohn Periander weiter, dessen Nachfolger Psammetichos schließlich blutig gestürzt wurde. Tyrannen wussten durchaus, sich durch populäre Maßnahmen Rückhalt in der Bevölkerung zu verschaffen: Sie verteilten Land, das sie anderen Aristokraten weggenommen hatten, an die Bürgerschaft und zeigten sich auch sonst generös. Die monumentale Ausgestaltung der athenischen Agora etwa geht auf den Tyrannen Peisistratos zurück. Paradoxerweise förderten die auf Prestige und Geltung bedachten Tyrannen so gerade das Entstehen einer bürgerschaftlichen Identität in ihren Städten – einer Identität, die schließlich die Tyrannis als Herrschaftsform überwinden half.
    In den Poleis Siziliens traten Tyrannen später auf den Plan als im griechischen Mutterland, aber sie hielten sich länger, errangen mehr Macht und beeinflussten den Lauf der Geschichte weitaus

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