Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute
Bösen auszurotten. Wie schon 1848 ließen sie nicht selten die ländlichen Honoratioren, vor allem die neu aufgestiegenen Landbesitzer, über die Klinge springen. Doch das war nicht der Sozialismus, der Garibaldi vorschwebte. Er glaubte |182| an Chancengleichheit, Fleiß und die Früchte ehrlicher Arbeit; sein Hass galt dementsprechend den Schmarotzern, die von fremdem Schweiß lebten, das heißt faulen Adeligen und reaktionären Priestern. Mit so schlichten Vorstellungen ließ sich zwar, wie sich bald zeigte, keine neue soziale Ordnung errichten und auch kein Staat machen, wohl aber das alte Regime der Bourbonen stürzen.
|181| Garibaldi selbst verzweifelte am Ende seines Lebens an seinem eigenen Werk: Das Italien der alten und neuen Reichen, die jetzt zusammen Sizilien beherrschten, war seine Sache nicht.
|182| Als die Besitzenden erkannten, dass Garibaldi nolens volens die Übergriffe auf dem Land mit äußerster Strenge unterband und stattdessen die Unantastbarkeit des Eigentums garantierte, setzten sie zunehmend, wie schon so oft in der Geschichte Siziliens, auf die Karte des Herrschaftswechsels. Durch ihre personelle und logistische Unterstützung siegte das zahlenmäßig unaufhaltsam anwachsende Expeditionskorps in allen Kämpfen über die demoralisierte bourbonische Armee, eroberte Palermo und setzte schließlich aufs Festland über, wo sich im Oktober der Siegeszug mit der Einnahme Neapels vollendete. Spätestens jetzt zeigte sich, was die Insel aus der widersprüchlichen Titulierung Garibaldis zu erwarten hatte: Der Diktator trat seine Macht an den König ab – Piemont statt Umsturz und Sozialismus war das Endergebnis der heroischen Anstrengungen. Garibaldi selbst war hin- und hergerissen. Seine intellektuellen Freunde von der demokratischen Linken beschworen ihn, seine Vollmachten nicht abzutreten, sondern den Süden als aufgeklärter Diktator einer umfassenden wirtschaftlichen und sozialen Reform zu unterziehen – vergeblich. Im Oktober 1860 stimmten 99,5 % der Sizilianer dem Anschluss an das Italien Viktor Emanuels zu. Dabei dürfte die große Mehrheit, die an diesem auf lange Zeit einzigen Akt allgemeinen Wahlrechts für die volljährige männliche Bevölkerung teilnahm, kaum gewusst haben, wofür sie stimmte – Italia war für die meisten Bauern die Gattin des Königs von Sardinien-Piemont.
|183| XIX Am Rande Italiens
Sizilien war damit die südlichste Region des (im März 1861 konstituierten) Königreichs Italien geworden, dem zur territorialen Abrundung nur noch das (1866 gewonnene) Venetien sowie der (1870 eroberte) Rumpfkirchenstaat mit der künftigen Hauptstadt Rom fehlte. Der Entfernung vom Machtzentrum Turin entsprach die mentale und kulturelle Fremdheit, die sich zwischen der Insel und den neuen Herren nur allzu rasch einstellte. Für die hohen piemontesischen Beamten war die Insel durch und durch dekadent – von der unverständlichen Sprache über die archaische Wirtschaft bis hin zu den undurchschaubaren Netzwerken, die die Gesellschaft in rivalisierende Bezirke aufteilten und zugleich abschnürten, und der allgegenwärtigen Gewalt der bewaffneten Banden auf dem Dorf. Diese betrüblichen Phänomene führten sie auf den moralischen Tiefstand zurück, der Eliten und Volk gleichermaßen herabwürdige und nur durch eine starke Staatsmacht, rigorose Justiz und heilsame Zwangserziehung, zu beheben sei. Sizilien sollte an Piemont genesen – diesem Programm entsprechend wurden der Insel die Bürokratie, der Fiskus und das Militärwesen des Nordens übergestülpt und zugleich die alten sozialen Für- und Vorsorgeinstitutionen der Kirche gravierend geschwächt. Höhere Abgaben, ein Staat, der sich überall einmischte, Zwangseinziehungen zur Armee für die Armen, während sich die Wohlhabenden freikaufen konnten, und Verlust des alten Minimalschutzes in wirtschaftlichen Krisenzeiten – mit all diesen Neuerungen sah die große Mehrheit der Sizilianer den Basispakt mit der Obrigkeit außer Kraft gesetzt. Gewaltsamer Widerstand war nicht nur legitim, sondern moralische Pflicht.
Die Revolten, die ab 1863 überall auf dem Lande aufflackerten, wurden von der Armee blutig unterdrückt. Effizienter als die bewaffnete Staatsmacht offen herauszufordern war es, sie zu umgehen. Der Staat, das war die
cosa nostra
des Hundertstels der Bevölkerung, das wählen und sich im Parlament als „Volksvertreter“ |184| aufspielen durfte. Bei ihnen fanden die Anliegen der kleinen Leute kein Gehör.
Weitere Kostenlose Bücher