Sizilien - eine Geschichte von den Anfaengen bis heute
Dafür brauchten sie andere, bei Bedarf gewalttätige Makler: die Mafia. Dahinter verbarg sich keine zentral gesteuerte Geheimorganisation, sondern eine Vielzahl lokaler Banden, deren Häupter als Mittler zwischen der ländlichen Unterschicht und den einflussreichen Kreisen in den großen Städten auftraten – Dienste, die sie sich nicht nur in Geld, sondern vor allem in Form von Anhang und Gefolgschaft entgelten ließen. Die frühesten, ab der Mitte des 19. Jh. nachweisbaren Gruppierungen dieser Art wurden weder von den lokalen Honoratioren noch von landlosen Tagelöhnern, sondern von einer ländlichen Sekundärelite dominiert, die sich in schweren Kämpfen gegen die älteren und einflussreicheren Familien behaupten musste. Dass sie sich schließlich als Gegenmacht zum Staat und „denen da oben“ zu etablieren vermochte, hängt aufs engste mit der Entwicklung der politischen Institutionen im geeinten Italien zusammen.
Liberal war der 1861 gegründete Nationalstaat nur in der Verfassungstheorie. Vor Ort aber trat er autoritär und korrupt zugleich auf. Die Netzwerk-Koalition, die im römischen Parlament über die Mehrheit der Klienten und damit der Stimmen verfügte, manipulierte die Wahlen, die ihr die Legitimation des „Volkes“ verschaffen sollten, mit allen nur denkbaren, auch kriminellen Methoden: Kandidaten der Opposition wurden unter Hausarrest gestellt, Wahlurnen verschwanden, Ergebnisse wurden „bereinigt“. Als ausführende Organe dienten dabei die Präfekten, die über die dafür nötigen polizeilichen und sonstigen Zwangsmittel geboten. Bei diesen Herrschaftssicherungs-Operationen kam die Unterstützung der Mafia-Mittelsmänner wie gerufen. Sie konnten noch sehr viel effizienter Wähler unter Druck setzen, unliebsame Kandidaten ausschalten und, je nach Lage, Unruhen schüren oder unterdrücken. Mafia und Staat verschmolzen nicht völlig, doch sie gingen ab dem Ende des 19. Jh. eine Symbiose ein, die bis in die Gegenwart fortdauert. Einmal mit der Macht verflochten, schöpften die vielen örtlichen Oberhäupter mit ihren straff und hierarchisch organisierten Gefolgschaften eine immer lukrativere Quote der landwirtschaftlichen Produktion ab: ein neuer Feudalismus, doppelgesichtig wie der alte, blutig auf der einen, den Widerspenstigen zugewandten Seite, fürsorglich gegenüber den loyalen Gefolgsleuten, und auf dem Lande tief verwurzelt.
Auch ökonomisch war der Anschluss – bzw. die Annexion, wie es die meisten Sizilianer zu sehen beliebten – für die Insel ein Desaster. Die Freihandelsregelungen benachteiligten die rückständige Landwirtschaft, die aus dem Süden abgezogenen Steuern finanzierten die Industrialisierung des Nordens. Öffentliche Gelder wurden dort kaum investiert. Das änderte sich auch nicht, als 1876 die sogenannte Linke unter ihrem Führer, dem Sizilianer Francesco Crispi, an |185| die Macht kam. Vom Garibaldi-Vize und Demokraten hatte sich dieser zwischenzeitlich zum Imperialisten gewandelt, der Italien in Afrika Kolonien erobern wollte und dafür die Steuern erhöhte. Anfang der 1890er Jahre artikulierte sich in Sizilien der Widerstand dagegen traditionell und neuartig zugleich: Alt waren die Prozessionen hinter dem Kruzifix, die rituelle Absage an die Heiligen, die ihre Schutzversprechen nicht einlösten, und die endzeitliche Erwartung einer neuen Kirche im Zeichen der Wiederkehr Christi; neu waren die sozialistischen Parolen, die roten Fahnen und die Streiks, mit denen die neuen,
fasci
(Rutenbündel) genannten Organisationen ihre Forderungen durchzusetzen versuchten. Neu aber war auch der Einfluss der Mafiosi, der sich politisch bemerkbar machte. Neu war anfangs auch die Haltung der Staatsgewalt unter dem Ministerpräsidenten Giovanni Giolitti. Er sah Arbeitsniederlegungen als legitimes Kampfmittel der Arbeiter an und hielt die Armee aus dem Konflikt heraus. Das sah der greise Crispi, der nach Giolittis Sturz Ministerpräsident wurde, anders und unterdrückte die Unruhen mit 30 000 Soldaten – um kurz darauf, als die Machtverhältnisse erneut zu kippen drohten, eine umfassende Landreform zugunsten von Kleinbauern aufs Tapet zu bringen. Um ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen, schlugen die Konservativen eine weitreichende Eigenständigkeit der Insel vor. Diese jedoch wurde ausgerechnet von der überwältigenden Mehrheit der sizilianischen Abgeordneten verworfen; sie waren längst so eng mit der landesweiten Elite verflochten, dass sie an einer solchen Semi-Autonomie
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