Skalpell Nr. 5
Großvater aller Blended Scotches und, wie Jake wusste, Harrigans liebste Sünde – das und eine übelriechende Pfeife. Jake hatte die Flasche vom Nationalen Polizeiverband geschenkt bekommen, nachdem er einen Vortrag über das Verhältnis zwischen Polizei, Medizin und Spurensicherung gehalten hatte. Er war versucht gewesen, ihn zu kosten, aber er hatte ihn verwahrt, um ihn mit Harrigan zusammen zu trinken. Jetzt war er nicht mehr sicher, ob das klug war.
Pete trank einen Schluck, zog an seiner Pfeife und atmete zufrieden aus. »Wir zwei hatten schon einige interessante Fälle zusammen, nicht? Weißt du noch der Geisterflecken-Mord? Der Fall Adam Gardiner?«
»Bei dem hab ich viel über Blutspritzspuren gelernt«, bestätigte Jake. »Das war eine der ersten Obduktionen, bei denen ich dir zugesehen habe.«
Gardiner war tot in seiner Garage aufgefunden worden, nackt, bäuchlings im eigenen Blut, eine Platzwunde über dem rechten Auge. Sein Körper wies über einhundert rote und bräunliche Blutergüsse auf, manche klein, manche großflächig. Auch im Haus war Blut, große Flecken und Tropfen auf dem Küchenboden. Die Polizei vermutete Mord. Harrigan wurde mit der Obduktion beauftragt.
»Aber die Platzwunde am Kopf hätte nicht so stark bluten können«, erinnerte sich Harrigan. »Und die Tropfen auf dem Boden waren gleichmäßig verteilt. Als ich das Muster der Spritzspuren sah, wurde mir klar, dass Gardiner langsam gegangen war und nicht vor einem Killer geflüchtet ist. Die Obduktionsergebnisse bestätigten das. Er litt an einer unerkannten, unbehandelten Tuberkulose, die in seine Lunge eingeblutet hatte. Er bekam keine Luft mehr und hustete Blut. Er war zu betrunken, um den Notarzt zu rufen. Die Blutergüsse waren in verschiedenen Phasen des Heilungsprozesses, wie bei einem Alkoholiker, der im Suff gegen Möbel und Wände stößt. Die Platzwunde stammte von einem Sturz. Er war eines natürlichen Todes gestorben. Er hatte sich mit Alkohol umgebracht.«
Jake liebte solche Gespräche. Manchmal konnte er sich auch mit Wally so unterhalten, doch sein Assistent war noch zu unerfahren, um wirklich ermessen zu können, wie viel Vergnügen darin lag. »Im Medizinstudium hat uns keiner beigebracht, dass ausgehustetes Blut sich mit Luft vermischt und Blasen wirft«, sagte er. »Du schon. Wenn die Tropfen dann trocknen, sind sie hell in der Mitte, anders als Blutstropfen aus einer Schnittwunde. Die Blase platzt beim Aufprall. Wenn sie dann getrocknet ist, sieht die Mitte geisterhaft bleich aus. Geisterflecken.«
Pete hob triumphierend sein Glas. »Das war gute Arbeit. Bei dem großen Gewicht, das heutzutage auf die DNS-Analyse gelegt wird, vergessen wir häufig, wie wichtig auch die kleinen Details am Tatort und bei der Obduktion sind. Wir sind bequem geworden.«
Jake prostete ihm zu. »Von dir hab ich gelernt, dass ein guter Gerichtsmediziner ein wissenschaftlicher Detektiv ist. Die offensichtlichen Antworten sind nicht immer richtig, und die richtigen Antworten nicht immer offensichtlich.« Er holte tief Atem. »Pete, ist alles in Ordnung mit dir?«
Der ältere Mann blickte ihn durchdringend an. »Wie meinst du das?«
»Heute zum Beispiel. Du hast die Sonne nicht vertragen. In der Leichenhalle bist du fast zusammengeklappt. Du warst kalkweiß. Das gefällt mir nicht.«
Pete goss sich noch einen Drink ein, leerte sein Glas in einem Zug, füllte es erneut und ließ es auf dem Schreibtisch stehen. »Mir geht’s gut. Ehrlich.«
»Das glaub ich dir nicht. Ich will dich nicht nerven, ehrlich, aber wenn du krank bist, dann sag es mir, bitte.«
Trauer und Schmerz schlichen sich in Harrigans Augen. »Jake, ich –«
»Ja?«
»Sie fehlt mir, das ist alles. Mir fehlt meine Frau, Dolores.«
Das ist nicht alles, dachte Jake. Nie im Leben. Aber wenn sein Freund nicht darüber reden wollte, konnte er ihn nicht zwingen. Pete war immer sehr zurückhaltend gewesen, und manchmal hatte er das, was Jake wissen sollte, nur auf Umwegen offenbart. Ich muss Geduld haben.
Am Sonntagabend war Jake wieder zu Hause und sah Obduktionsfotos und Zeugenaussagen durch, um sich auf seine Aussage am nächsten Morgen in einem Mordprozess vorzubereiten. Wenn der Gerichtstermin nicht gewesen wäre, hätte er zum ersten Mal seit einer Ewigkeit ein paar Tage freigenommen, um in Turner zu bleiben und weiter mit Harrigan an dem Fall zu arbeiten.
Aber im Grunde hatten sie schon so gut wie alles erledigt, was sie zu diesem Zeitpunkt tun konnten. Sie
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