Skalpell Nr. 5
meinem Alter weiß man Zeit zu schätzen. Also beweg deinen Hintern hierher und hilf mir.«
»Ehrlich, ich kann nicht. Pederson reißt mir den Kopf ab, wenn ich jetzt freinehme, und Donnerstag muss ich in einem Doppelmordprozess mein Gutachten abgeben.«
»Jake, es ist wirklich dringend!«
Unwillkürlich reagierte er verärgert. »Wieso denn? Das ist doch Routinekram. Einer von den Krankenhausärzten könnte dir helfen.«
»Es geht nicht um die Identifizierung. Ich muss mit dir reden.«
»Worüber?«
Petes Stimme sank zu einem Flüstern. »Das geht nur unter vier Augen. Ehrlich.«
Er will es mir sagen. »Dann komme ich Freitagabend. Früher schaffe ich es unmöglich.«
Pause.
»Okay?«
Pete seufzte. Es klang verzweifelt. »Wenn es wirklich nicht anders geht.«
3
J ake klopfte an die Tür. Niemand öffnete. Er drehte am Türknauf: abgeschlossen. »Pete, bist du da?«
Stille.
Jake ging zur Rückseite des Cottage. In der Küche brannte Licht, die Tür war offen. Jake trat ein. Eine schmutzige Bratpfanne lag in der Spüle, dazu ein einzelner Teller und benutztes Besteck. Pete hatte sich zum Abendessen ein Steak gebraten.
»Pete?«
Er ging weiter ins Wohnzimmer. Auch hier brannte Licht, doch von seinem Freund war nichts zu sehen. Allmählich fing Jake an, sich Sorgen zu machen, und er öffnete die Tür zum Schlafzimmer in der Hoffnung, dass Pete nach dem Essen einfach schlafen gegangen war. Das Bett war ungemacht, aber leer. Jake spürte sein Herz heftiger pochen; die Stille war beängstigend.
Der einzige Raum, in dem er noch nicht nachgesehen hatte, war das Arbeitszimmer, wo sie erst vor einer Woche über Geisterflecken geplaudert und den besten Scotch der Welt genossen hatten.
»Bist du da drin?« Er öffnete die Tür.
Pete war am Schreibtisch zusammengesunken, ein aufgeschlagenes Buch in den Händen. Mit zwei Schritten war Jake bei seinem Freund, tastete nach dem Puls, suchte nach einem Lebenszeichen und konnte keines finden.
Er stöhnte leise auf. Ich hätte Pederson überreden sollen, mich fahren zu lassen. Ich hätte mehr Zeit mit ihm verbringen sollen. Hätte ihm sagen sollen, dass er für mich wie ein Vater war. Zu spät. Verzeih mir.
Um ganz sicherzugehen, beugte er sich über Harrigan und versuchte, seinen Unterkiefer zu bewegen. Aber die Totenstarre hatte bereits eingesetzt. Dann hob er vorsichtig Petes Gesicht von der Schreibtischplatte. Leichenflecke hatten sich gebildet, waren aber noch nicht fixiert. Jake drückte mit dem Daumen auf Petes rechte Wange und sah auf der Haut ein blasses Oval erscheinen, das gleich wieder verschwand. Der Todeszeitpunkt, das wusste Jake nun, war etwa halb vier, vier Stunden, bevor er angekommen war.
Nachdem er das mit wissenschaftlicher Präzision festgestellt hatte, setzte er sich in den Sessel vor dem Schreibtisch und ließ seinen Tränen freien Lauf.
Die Trauerfeier für Dr. Peter Harrigan fand im kleinen Kreis in der Kirche der katholischen Gemeinde in Queens statt, wo er und Dolores fast während der ganzen Zeit ihrer Ehe gelebt hatten. In Anbetracht ihrer Stellung als Bundesanwältin des Staates New Jersey hatte Elizabeth anschließend zu einem großen Empfang bei sich zu Hause geladen, aber Pete hatte sich eine schlichte Bestattung gewünscht, was von seiner Tochter respektiert worden war. Jake entdeckte sie in der vordersten Reihe. Sie hatte den Kopf an die Schulter eines Mannes gelehnt – Daniel Markis, vermutete Jake. Er war ihrem Mann noch nicht begegnet, aber wer sollte es sonst sein? Links neben ihr saßen zwei kleine Mädchen, rechts neben Markis ein Junge. Ihre Kinder, doch Jake konnte sich nicht mehr an die Namen erinnern. Der Anblick brachte ihn aus der Fassung. Seine letzte Begegnung mit Elizabeth lag fünfzehn Jahre zurück, und obwohl Pete ihm von ihrer Heirat und der Geburt der Kinder erzählt hatte, war es ein Schock für ihn, sie leibhaftig vor sich zu sehen. Er erkannte Dolores’ Schwester – Ruth? –, aber ansonsten keinen der etwa fünfzehn anderen Trauergäste. War ihm nur lieb. Die Intensität seiner Trauer hätte Smalltalk – ja sogar Mitgefühl – unmöglich gemacht.
Pete war mächtig stolz auf seine Tochter gewesen, die es nach zehn Jahren im US-Justizministerium als erste Frau zur Bundesanwältin von New Jersey gebracht hatte. Erst kürzlich hatte sie einen großen Korruptionsfall in Monmouth Country aufgedeckt; ein Bauunternehmer hatte Bürgermeistern und Stadträten Schmiergelder gezahlt, um weiter an einem
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