Skalpell Nr. 5
es ihm, sich nach Wally zu erkundigen.
»Josephs Bruder William – der inzwischen leider verstorben ist – hat als Hausmeister in der Klinik in Turner gearbeitet«, sagte Dora. Mit ihren fast achtzig Jahren war sie eine zarte Frau, deren Gesicht, Haut und Körperhaltung von einem Leben zeugten, das zu einem großen Teil an der frischen Luft verbracht worden war. »Joseph und ich konnten keine eigenen Kinder haben. Eines Tages hat uns ein gewisser Dr. Ewing angerufen – ein ganz lieber Mann – und gefragt, ob wir uns vorstellen könnten, ein Neugeborenes zu adoptieren.«
Joseph, groß, hager und ähnlich wettergegerbt, ergriff die Hand seiner Frau. »Offenbar hatte William Dr. Ewing von unserem Kummer erzählt. Dr. Ewing sagte uns, das Kind habe eine Behinderung, einen Klumpfuß, sei aber ansonsten geistig und körperlich gesund. Ob wir bereit wären, in die Klinik zu kommen und ihn uns anzusehen?«
Bei der Erinnerung daran blitzten Doras Augen. »Er hatte so ein süßes Gesichtchen! Er kann damals höchstens einen Monat alt gewesen sein, aber er winkte schon mit seinen kleinen Händchen, als wollte er uns begrüßen, und ich hab ihn hochgehoben und – na, irgendwie passte er auf Anhieb zu uns.«
»Der Klumpfuß hat uns nicht gestört, und wir hätten auch gar nicht das Geld gehabt, ihn richten zu lassen«, setzte Joseph die Erzählung nahtlos fort, als hätten die beiden ihren Text einstudiert. »Wir wussten, dass der Junge Probleme haben würde, aber gibt es denn irgendeinen Menschen auf der Welt, der keine hat?«
Dora sah Jake beinahe trotzig an. »Wir haben ihn deshalb nur noch lieber gehabt. In der Schule hatte er einiges durchzumachen – ich glaube, deshalb ist er zum Einzelgänger geworden –, zumindest hatte er kaum Freunde, als er klein war, und später in der High School keine Freundin. Aber er war immer so gutmütig, so ausgeglichen, dass wir uns keine großen Sorgen um ihn gemacht haben.«
Jetzt schaltete sich Joseph wieder ein. »Sein kluger Kopf hat ihn gerettet. Wally konnte schon mit fünf Jahren lesen und ist eine richtige Leseratte geworden. Aber nach dem Medizinstudium an der Columbia wusste er nicht so recht, in welchen Bereich er gehen sollte. Ich glaube, er wollte irgendwohin, wo nicht so viele Menschen waren, deshalb ist er nach Santa Fe gegangen. Dort hat er mit Kindern gearbeitet, die noch weniger Glück hatten als er.«
Mit Kindern, die stärker behindert waren als er.
»Dann hat er irgendwie die Kraft aufgebracht, zurück nach New York zu gehen«, sagte Dora. »Das fanden wir sehr mutig von ihm. Nicht nur zurückzukehren, sondern noch dazu in einer Großstadt als Mediziner zu arbeiten, im Team mit anderen Medizinern.«
Das war allerdings mutig. »Haben Sie je seine leiblichen Eltern ausfindig gemacht?«
»Oh ja!«, rief Dora, als wäre die Frage eine Riesenüberraschung. »Das heißt, seinen leiblichen Vater. Die Mutter ist bei der Geburt gestorben.«
Jake hielt den Atem an. »Wie hieß er denn?«
»Na, Peter Harrigan, natürlich. Hat Dr. Harrigan Ihnen denn nicht erzählt, dass Wally adoptiert wurde?«
»Doch, aber er hat mir nicht gesagt, dass er der Vater war.«
»Eigenartig«, sagte Joseph. »Pete mochte den Jungen sehr. Vielleicht hatte er Angst, Sie würden es Wally erzählen.«
Pete? »Sie kannten Dr. Harrigan persönlich?«
»Natürlich! Er war Wallys Lehrer, als Wally nach New York kam. Er hat sich damals mit uns in Verbindung gesetzt, uns aber das Versprechen abgenommen, Wally nichts zu sagen, ehe er sein Studium abgeschlossen hatte. Pete war inzwischen verheiratet und hatte eine Tochter. Er wollte nicht, dass seine neue Familie von seiner Vergangenheit erfuhr oder dass Wally mitbekam, dass sein Lehrer auch sein leiblicher Vater war. Er war es auch, der uns von Wallys Mutter erzählt hat. Er hat sie geliebt, sagte er, und sie war bei der Geburt gestorben, ehe die beiden heiraten konnten. Er und Wally haben sich richtig gut verstanden. Sie haben sich nicht allzu oft gesehen, aber immer wenn Pete zu Besuch kam, führten er und Wally ganz lange Gespräche über Medizin und das Leben im Allgemeinen. Und dann hat er ihm ja den Job bei Ihnen vermittelt. Er hat gesagt, Sie wären sein bester Freund.«
Das war ich auch. Auch wir haben solche Gespräche geführt. Pete muss die Winnicks auf dieselbe Weise gefunden haben wie ich. Und seine Lüge war eine gnädige. Jake spürte einen Kloß im Hals. Die Gefühle, die er seit seiner Ankunft in Schach gehalten hatte,
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