Skalpell Nr. 5
schien vor ihren Augen zu schrumpfen wie ein Flaschengeist. »Ich hatte keine andere Wahl«, sagte er. »Es war ein Regierungsprogramm. Ich war Patriot.« Er legte den Kopf auf den Schreibtisch und schloss die Augen, als wartete er auf das Fallbeil.
»Ich bin kein großer Fan der Regierung«, sagte Manny ruhig, obwohl ihr Herz raste, »und ich habe schon mehr als genug Ungerechtigkeiten gesehen, aber was Sie da in Turner im Namen der Regierung getrieben haben, das ist schlicht verabscheuungswürdig.«
Ewing hob den Kopf. Sein Blick war leer. »Das hat nicht nur in Turner stattgefunden, sondern überall im Land. Sie dürfen nicht vergessen, es war die Zeit des Kalten Krieges. Wir haben Angst, die Russen würden ihre Bomben einsetzen. Wir mussten wissen, wie viel Strahlung ein Mensch überleben konnte. Es war Selbstschutz.«
Blödsinn. »Und das Meskalin?«
»Die Nordkoreaner setzten neunzehnzweiundfünfzig Drogen ein, die Japaner während des Zweiten Weltkriegs. Meskalin und alle möglichen anderen Arten von bewusstseinsverändernden Substanzen. Wir mussten herausfinden, was ein Mensch verkraften konnte, ehe er anfing, Geheimnisse auszuplaudern und sein Land zu verraten.«
»Selbstverständlich hätten Sie niemals radioaktive Strahlung oder Drogen oder Serratia-Bakterien als Waffen eingesetzt.«
Kurzes Zögern. »Niemals. Wir sprechen von den Vereinigten Staaten.«
Du selbstgerechter Vollidiot, dachte Manny. »Deshalb haben Sie ja auch mit Menschen experimentiert, deren Bewusstsein schon gestört war. Ich muss Ihnen sagen, diese Logik ist pervers.«
»Isabella war nicht geistesgestört.«
»Nein, sie war nur schwanger. Das macht es dann wohl weniger schlimm. Haben Sie auch an Nichtschwangeren Meskalin ausprobiert? Als eine Art Gegenprobe?« Manny stand zornbebend auf. »Ich danke Ihnen für dieses höchst informative Gespräch, Dr. Ewing.«
Er griff nach ihrer Hand. »Wo wollen Sie hin?«
»Nach New York. Ich bin bloß eine einfache Bürgerrechtsanwältin, aber ich vermute, dass es sehr viele Leute interessieren wird, was in Turner passiert ist – oder sogar überall im Land, wenn das stimmt, was Sie sagen. Wenn ich Sie wäre, würde ich mir einen guten Anwalt nehmen. Vielleicht einen aus dem Justizministerium. Die Interessen seines Vorgesetzten decken sich ja vermutlich mit den Ihren.«
Sie betrachtete ihn ein letztes Mal und spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. »Sagen Sie die Wahrheit, waren es wirklich nur vier?«
Er zögerte, dann schüttelte er den Kopf.
»Und die Leichen?«
»Wurden in dem Feld vergraben wie die anderen.«
Die Zugabe auf Wunsch der Zuhörer. »Wenn das so ist, werden die Bauarbeiten dort wohl gestoppt werden müssen, bis wir die sterblichen Überreste dieser Menschen ausgegraben haben. Aber keine Bange, den Nobelpreis werden Sie wahrscheinlich nicht zurückgeben müssen.«
Als sie ging, griff er schon zum Telefon, um ein Ferngespräch zu führen.
Jake hatte richtig geraten. Falls Pete etwas bei sich gehabt hatte, in dem er die Existenz des Kindes erklärte, dann gab es wohl kaum ein besseres Versteck dafür als das Handschuhfach von Jakes Auto, wo es nur von Jake gefunden werden konnte. Aber warum hat er es mir nicht an jenem Abend gegeben?, überlegte Jake und wusste fast im gleichen Moment die Antwort: Weil er nicht dabei sein wollte, wenn ich es lese. Er hat sich zu sehr geschämt. Jetzt öffnete er den Brief. Über die Jahrzehnte hinweg hörte er die Stimme von Isabella de la Schallier.
Mein Liebster, in meinem ganzen Leben werde ich keinen schmerzlicheren Brief schreiben als diesen. Ich flehe Dich an, Lu, worum ich Dich in diesem Briefe bitte, auch wenn es gewiss schwer für Dich sein wird, und behalte ihn auf immer als Erinnerung an meine Liebe.
Dr. Ewing hat mir gestern eröffnet, dass man mir Meskalin verabreichen wird. Er hat gesagt, es wäre nur zu meinem Besten, dass es mir gegen meine Depression helfen wird, aber ich weiß, dass er lügt. Ich bin nicht deprimiert – Du hast große Freude in mein Leben gebracht. Und ich bin nicht krank, höchstens krank vor Liebe. Also werde auch ich nun ein Turner-Opfer werden, wie Lyons und Millen, Tedesco, Ryan und Cochran und die drei anderen, deren Namen ich nicht kenne. Diejenigen, die vor mir im Isolierraum verschwunden sind. Schlimmstenfalls werde ich verrückt werden, bestenfalls sterben.
Natürlich hab ich mich gewehrt. Ich habe gebettelt, ihn auf Händen und Knien angefleht. Er hat mir erklärt, dass er das
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