Skandal im Königshaus Meisterspionin Mary Quinn 3
Details, auf die sie geachtet hatte, auffie len : das feine Briefpapier, die leicht gestelzte Schrift einer älteren, ehrbaren Dame. Schließlich nickte erund reichte das Schreiben zurück. »In Ordnung, Miss. Das macht zwei Pence Porto.«
Sie zahlte und eilte davon.
Die Straßen der Innenstadt waren viel zu belebt, um den Brief zu lesen. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, sich über den möglichen Inhalt Gedanken zu machen, bis sie den Park erreichte. Die Tatsache, dass sie überhaupt eine Antwort erhalten hatte, bedeutete, dass Lang – oder ein anderer – ihren Brief geöffnet und ihren falschen Namen und die Adresse gefunden hatte. Darüber hinaus standen die Vorzeichen schlecht: Die schlampige Adresse, das Wiederverwenden ihres alten Umschlags deuteten an, dass Lang nicht nur uninteressiert war an Hilfe von außen, sondern sie bewusst zurückwies. Wenn er gleichgültig gewesen wäre, hätte er einfach nicht geantwortet – so hätte sie es zumindest erwartet. Diese bewusste Zurückweisung machte alles komplizierter.
Im friedlichen und relativ stillen St. James’s Park starrte Mary den schicksalsträchtigen Umschlag an. Als Kind hatte sie oft davon geträumt, von ihrem Vater gefunden zu werden – von dem freundlichen, liebevollen Mann, aus dem sie über die Jahre ein Muster an Weisheit und edler Aufopferung gemacht hatte. Sie hatte sich vorgestellt, wie er mutig einer Bande von Piraten entkommen war oder als Held von einer geheimen Mission für die Krone zurückkehrte, nachdem sie schon alle Hoffnung aufgegeben hatte. Lang Jin Hai scheute in ihren Träumen keine Mühe, um nach seinem einzigen geliebten Kind zusuchen. Ihre Wiedervereinigung wäre wie aus einem Märchen oder einem schnulzigen Roman gewesen, wie ein Traum.
Sie verzog den Mund. Und nun das. Wenn der Mann tatsächlich ihr Vater war, war es ihm gelungen, jede ihrer Traumvorstellungen zu zerstören. Erst hatte sie seinen Namen im Zusammenhang mit Gewalt und Skandal gehört. Sie hatte alles unternommen, um mit ihm in Verbindung zu treten. Und nun wollte er nichts mit ihr zu tun haben. Eine Träne rollte ihr über die Wange und sie wischte sie mit plötzlicher Wut weg. Warum verhielt sie sich auf einmal so passiv und wartete auf den väterlichen weißen Ritter, der sie retten würde? Ob ihr Vater ein Mörder war oder nicht, ob er ein Opiumsüchtiger war oder nicht, das eine, was er ihr vermacht hatte, war die Angewohnheit, für sich selbst zu kämpfen. Das war ihre einzige Erbschaft.
Sie öffnete den Umschlag. Es war genau, wie sie erwartet hatte, oder schlimmer: Ihr eigener Brief war in zwei Teile zerrissen. Es war die deutliche Botschaft, dass ihre Zuwendung unerwünscht war. Auch recht. Sie war nicht nur daran interessiert, Lang Jin Hai zu helfen, sondern auch daran, die Fragen ihrer eigenen Vergangenheit zu klären. Und dazu brauchte sie den Segen dieses Mannes nicht. Sie würde uneingeladen hingehen und feststellen, ob er ihr Vater war oder nicht.
Wenn nicht, dann konnte sie wieder beruhigt davon ausgehen, dass ihr Vater tot war. Wenn er ihr Vaterwar, konnte sie ihn fragen, was passiert war. Und wenn er wegen Mordes hingerichtet wurde, dann war er wiederum endgültig tot. Es war eine verrückte Logik in der Geschichte. Ihre Augen waren trocken, als sie den Brief in Stücke riss, in Dutzende kleiner Fetzen, und sie in ihre Tasche stopfte.
Dabei berührten ihre Finger den anderen Brief – der beim Mittagessen unter der Valentinskarte gelegen hatte. Sie hatte ihn ganz vergessen und zog ihn nun hastig heraus. Es war ja auch Zeit, dass sie von der Agentur hörte. Die Schrift auf dem Umschlag war aber weder die von Anne noch von Felicity. Und doch irgendwie vertraut. Als ihr Blick das M streifte, das schwungvolle Q, spürte sie, wie ihr Herzschlag in einem Gemisch aus Euphorie und Argwohn mal wieder doppelt so schnell wurde. Sie fuhr mit den Fingerspitzen darüber. Nach dem, wie sie zuletzt auseinandergegangen waren, kam hier eine weitere Bestätigung von James’ Verachtung? Nichts konnte schlimmer sein, als wie sie sich jetzt fühlte. Sie riss den Brief schnell und ohne weitere Umstände auf.
Meine liebste Mary,
sowohl meine Worte als auch mein Betragen bei unserem letzten Treffen waren nicht die eines Gentleman – entstanden in der Eile und Überschwänglichkeit der Situation –, und dennoch kann ich mich nicht überwinden, mich zu entschuldigen. Ich bin froh, dass ich dich geküsst habe; habe mich gefreut,
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