Skandal um Lady Amelie
Dein Betragen einer Dame gegenüber kann nur als äußerst ungehörig und nachgerade empörend bezeichnet werden. Und nun bin ich nicht einmal die, für die man mich hält. Wer weiß, wer ich wirklich bin? Hast du in London wirklich etwas herausgefunden, oder ist das auch nur Humbug?“
Er schleckte ihr eine vergessene Träne von der Wange. „Hmm. Oh weh, mir scheint, da geht sie hin, meine Glaubwürdigkeit. Doch ernsthaft, ich habe tatsächlich etwas entdeckt, das zu deiner Geschichte passt, mein Liebling. Wie es aussieht, hat nämlich Sir Josiah Chester sich die größte Mühe gegeben, die wahre Identität seiner ersten Liebe zu vertuschen, indem er behauptete, sie sei die Zofe deiner Ziehmutter. Weißt du, mit dem Porträt in deinem Schlafzimmer fing es an. Es erinnerte mich nämlich ganz fatal an jemanden, an eine Dame, die einmal in Sheen Court zu Besuch war. Sie beeindruckte mich zutiefst. Ich muss sechs oder sieben gewesen sein, und sie war ein exquisites Geschöpf, eine hinreißende Schönheit. Damals habe ich mich, glaube ich, zum ersten Mal verliebt. Als ich dein Bildnis erblickte, das dieser Frau so ähnlich sah, wurde mir klar, dass da eine Verbindung bestehen muss. Also nahm ich bei der nächsten Gelegenheit, das war auf Lady Sergeants Ball, Lord Dysart beiseite und plauderte ein wenig mit ihm, während du mit Seton tanztest.“
„Und ich dachte, du wärest mit … ach, egal … erzähl weiter.“
„Nun, Dysart sagte, dass er die Carrs nicht persönlich kannte, und von Chester wusste er nur, dass der in seiner Jugend recht wild gewesen war, ehe er ehrbarer wurde und sich als Bankier etablierte. Aber Dysart war außerordentlich interessiert an dir, meine Liebste. Du erinnertest ihn an jemanden, den er vor gut zwanzig Jahren gekannt hatte, eine berühmte Schönheit namens Fanny Scale. Sie heiratete Viscount Winterbourne, der gleich im ersten Jahr ihrer Ehe an einem Kriegszug teilnehmen musste. Mehr wusste Dysart leider auch nicht.“
„Und dann?“, fragte Amelie gespannt.
„Dann suchte ich meine Mutter in London auf. Ich wusste, dass sie die Winterbournes gut gekannt hatte und mit Fanny schon vor deren Ehe befreundet war. Und jetzt wird es interessant: Fannys Eltern lebten in Manchester, und bei denen verbrachte sie fast ein Jahr, nachdem ihr Gemahl mit seinem Regiment abkommandiert worden war. Wie meine Mutter sagt, muss das etwa 1780 gewesen sein. Wieder zurück in London, vertraute sie meiner Mutter als ihrer besten Freundin an, dass sie in Manchester mit einem ganz wunderbaren Mann eine Affäre gehabt und ein Kind geboren hatte, doch den Namen des Vaters verriet sie nicht. Das Baby war sofort nach der Geburt in das Waisenhaus der Stadt gebracht worden, da Winterbourne niemals das Kind eines anderen anerkannt hätte. Meine Mutter sagte, Fanny hätte sich nie verzeihen können, dass sie das Kind fortgab.“
„Wusste deine Mutter noch das Jahr?“
„Sie meinte, es müsste im Frühjahr 1781 gewesen sein.“
„Im April haben die Carrs mich adoptiert. Ursprünglich wollte mein Vater einen Jungen, einen Sohn, um einen Erben zu haben, doch meine Mutter sah mich und ließ sich nicht davon abbringen, dass ich ihr ähnelte, sodass man mich für ihr leibliches Kind halten würde. Aber sag, was wurde aus Fanny? Lebt sie noch in London?“
„Leider starb sie bei der Geburt ihres zweiten Sohnes; ihre beiden Knaben starben noch im Säuglingsalter. Winterbourne kehrte zu seinem Regiment zurück und fiel kurze Zeit später.“
„Oh, Nick“, sagte sie, seine Hand umklammernd. „Wie traurig das ist. Es ist … ach … Nick, wie brachte sie es nur über sich, ihr Kind fortzugeben … so ein winziges Geschöpfchen. Warum hat sie nicht wenigstens statt des Waisenhauses eine Pflegestelle gesucht? Eine Familie, die das Baby freundlich aufgenommen und geliebt hätte? Wie konnte sie nur …?“ Ihre Worte erstarben, und heiße Tränen tropften auf seine Hand.
Nun, die junge Lady Fanny war bestimmt nicht die Einzige, die ihr Kind um der Ehrbarkeit willen im Stich ließ. Hier also, dachte Nick, entspringt Amelies leidenschaftliches Mitgefühl für obdachlose Schwangere und Waisenkinder. Von Natur aus weichherzig, hatte sie ihre mütterlichen Instinkte darauf verwendet, sich der Unglücklichen und Verlassenen anzunehmen, vielleicht auch in Vergeltung der Güte, die ihre Pflegeeltern ihr erwiesen hatten. Die Listen, derer sie sich dazu bediente, hatten ihr allerdings einen großen Preis abgefordert.
„Nicht
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