Skandal um Lady Amelie
„Irgendwo hier hatte ich unseren Tee abgestellt“, murmelte er.
Um die kleine Gesellschaft der Neugier der Ballbesucher zu entziehen, führte Nicholas sie kurz entschlossen zum White Heart. Bei stärkenden Getränken und einem schlichten Mahl fanden sie nach und nach ihre Fassung wieder. Stephens Gefühle allerdings waren noch in einem schlimmeren Zustand als Amelies, nachdem er sich der Rache so nahe gesehen hatte. Zwei Jahre hatte er gehofft, sich an dem Mörder seines Bruders rächen zu können, und wäre Amelie nicht bedroht gewesen, hätte er Hurst mit Sicherheit erschossen. Er erklärte, dass er seit dem Duell damals stets die Pistole seines Bruders bei sich getragen hatte, immer in der Hoffnung, dem Schurken gegenübertreten zu können. „Der Dreckskerl wusste, dass Josiah den Degen besser beherrschte, trotzdem wählte er Pistolen … Mich hätte er fordern sollen! Ich hätte ihn gleich erwischt …“
„Still, mein Lieber“, sagte Hannah tröstend. „Beruhigen Sie sich.“
„Mit Hurst werden sich die Richter befassen. Es ist besser so, mein Freund.“
„Wenn Stephen nicht gewesen wäre, säße ich jetzt vielleicht nicht hier“, sagte Amelie. „Wirklich, du warst so mutig … dass du das Feuer auf dich zogst … Ehrlich, du bist ein Held.“
„Wirklich?“ Stephens Miene erhellte sich ein wenig.
„Ja, wirklich. Eine große Tat, nicht wahr Nick?“
„Ja, wahrhaftig, Ihnen verdanke ich das Leben meiner zukünftigen Gattin, Chester. Wer weiß, was der Kerl ohne Ihr mutiges Eingreifen noch angerichtet hätte.“
Nachdem Stephen sich verlegen die Nase geputzt hatte, fuhr er sich glättend über das Haar und murmelte bescheiden: „Oh, wirklich, es war eine Kleinigkeit.“ Doch Hannah und Caterina schauten einander verschwörerisch an und beschlossen wortlos, dass Hannahs Anwesenheit in Buxton ein Muss wäre. Stephen brauchte, war die stumme Botschaft, jemanden wie Hannah. Amelie war nicht die Richtige für ihn. Sie brachte sich in letzter Zeit ständig in fragwürdige Situationen.
„Übrigens hast du mir einen Gefallen getan“, flüsterte Adorna und nahm das Recht in Anspruch, ihre zukünftige
Schwägerin zu duzen.
„Wie meint du das?“, flüsterte Amelie zurück.
„Nun, nach diesem aufsehenerregenden Zwischenfall wird niemand mehr einen Gedanken daran verschwenden, dass ich an Captain Rankins Seite den Ball besucht habe. Und was dich betrifft – sorg dich nicht wegen der Aufregung, deren Mittelpunkt du heute warst. Morgen Mittag bist du weit weg, und wenn du nächstes Jahr mit Nick zur Saison wieder herkommst, haben die einen es vergessen, und die anderen beneiden dich.“
„Dorna!“ Amelie lachte. „Du bist unmöglich!“
„Mag sein, aber ich weiß, wovon ich spreche.“
Nach und nach wandten die Gespräche sich alltäglicheren Dingen zu, und als die Gesellschaft endlich aufbrach, meinte Nick nur spaßhaft, dass die Ballgäste eigentlich für diese außergewöhnliche Unterhaltung hätten extra zahlen müssen.
Später in Amelies Schlafgemach verkündete Nick in übermütiger Stimmung, dass sie sich nun, mit derartigen Referenzen ausgestattet, hocherhobenen Hauptes als würdiges Mitglied in die Reihen seiner skandalträchtigen Familie einfügen könne. Und dass sie aus dem Norden des Landes stamme und unstandesgemäße Verbindungen zur Handelswelt habe, mache das Ganze nur noch ein wenig pikanter.
Als das Schicksal ihnen heute Abend auf dramatischste Weise ihren Lebensinhalt zu nehmen drohte, war ihnen zum ersten Mal richtig bewusst geworden, wie sehr sie einander liebten. Nick hatte um Amelie nicht weniger Angst ausgestanden als sie um ihn, und er gestand, dass er sich weniger aus Heldenmut auf Hurst gestürzt hatte denn aus Furcht, sie zu verlieren.
Bisher war ihr Liebesakt fast immer eher einem stürmischen Kampf gleichgekommen, in dieser Nacht jedoch liebten sie sich langsam und zärtlich und schworen einander immer wieder tiefe, ewige, bedingungslose Liebe. Sie vertrauten einander an, dass sie diese Gefühle schon lange gehegt hatten; es nun auszusprechen, schenkte ihrer Beziehung einen ganz neuen, eigenen Glanz. Sie flüsterten süße, nie zuvor ausgesprochene oder gehörte Zärtlichkeiten und konnten nicht genug schwärmerische Worte füreinander finden. Sie hauchte, in wie wunderbarer Weise er ihre Seele und ihren Leib gleichermaßen zu erfassen vermochte, und er erklärte, wie göttlich ihr schmiegsamer Körper und wie mitfühlend und unabhängig ihr Geist sei.
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