Skandalfilme - cineastische Aufreger gestern und heute
Versuchung
135a–f Die letzte Versuchung: «verfälscht und verzerrt»
Martin SCORSESES D IE LETZTE V ERSUCHUNG C HRISTI setzt sich auf einer, wie der Regisseur immer wieder betonte, fiktiven Ebene mit dem Leben Jesu Christi und vor allem seinem Wunderwirken und seiner Kreuzigung auseinander. Der Film gibt nicht vor, auf der biblischen Erzählung zu basieren, sondern versteht sich als Adaption von Nikos Kazantzakis’ gleichnamigem Roman. Scorsese zeichnet Jesus als einen Menschen voller Schwächen, der mit seinem Schicksal hadert und längst nicht jeder Versuchung zu widerstehen vermag. Gleichzeitig aber predigt er überzeugend von Nächstenliebe und Gottesglaube. In Scorseses Jesus hat Gott nicht nur menschliche Gestalt angenommen, sondern er ist tatsächlich Mensch geworden. Ein «gewöhnlicher Mensch», der sich und seiner Überzeugung gegen alle Widerstände Gehör verschaffen muss. Einer, der immer wieder Rückschläge erlebt, aber schließlich doch hartnäckig sein Ziel verfolgt, die Menschen zu bekehren, ihnen Hoffnung zu geben und eine gerechtere Gesellschaft zu formen. Jesus und seine Anhänger bewegen sich dabei an der sozialen Peripherie. Immer wieder sind sie Zorn und Gespött ausgesetzt. Und immer wieder streiten sie sich auch untereinander über den richtigen Weg. Längst nicht alle sind bereit, Jesus vorbehaltlos zu folgen. Und längst nicht alle schrecken beim Versuch, die neue Lehre unter dem Volk zu verbreiten, vor Gewalt zurück.
Im Film wird Jesus treu begleitet von seinem engsten Freund Judas, der mehr als Jesus selbst an dessen göttliche Berufung glaubt, ihm immer wieder Mut zuspricht und ihn darin bestärkt, seinen Weg weiter zu gehen. Judas’ «Verrat» erscheint bei Scorsese alsschmerzhaftes Opfer, das Judas erbringen muss, damit Jesus den göttlichen Plan vollenden kann. Als Beweis seiner Treue soll Judas Jesus an die Römer verraten. Judas erfüllt den Wunsch seines Freundes, woraufhin Jesus verhaftet und gekreuzigt wird.
Am Kreuz nun sieht sich Jesus jener «letzten Versuchung» ausgesetzt, die dem Film den Titel gab (Abb. 135a–f). Ein Engel erscheint ihm in Gestalt eines Kindes und verkündet, dass Gott Jesus’ großes Opfer, für die Menschen zu sterben, nicht mehr erwarte. Gott habe nun gesehen, dass Jesus zu allem bereit sei. Sein Tod sei nicht mehr nötig, seine Pflicht erfüllt. Der Engel gibt vor, Jesus in sein verdientes besseres Leben mit Familie an der Seite Maria Magdalenas begleiten und ihn für immer vor allem Bösen beschützen zu wollen. Jesus lässt sich täuschen und gibt sich zunächst der Versuchung hin, ein ganz normales, glückliches Leben zu führen. Als er aber realisiert, dass die Menschen ohne seinen Opfertod den Glauben an den Gottessohn verloren haben, erkennt er den Teufel im Engel. Gerade noch rechtzeitig widersteht er der Versuchung. Die Illusion vom irdischen Glück zerplatzt, er findet sich am Kreuz wieder und erfüllt den göttlichen Willen.
Martin Scorseses eigenwillige Interpretation der Leidensgeschichte Jesu verdeutlicht auf eindringliche und faszinierende Weise die inneren Kämpfe, denen sich der von Willem Dafoe großartig gespielte Jesusangesichts der göttlichen Bestimmung, die auf ihm lastet, ausgesetzt fühlt. Zweifel, Unsicherheiten und Sehnsüchte verleihen dem Film eine ungewöhnliche Dynamik, die wie bei kaum einem anderen Jesusfilm eine empathische Anteilnahme mit dem Schicksal Jesu ermöglicht. Konsequenterweise besteht die letzte und größte Versuchung Jesu nicht etwa darin, dass ihm der Teufel ein Leben voller Macht und sexueller Ausschweifungen vorgaukelt, sondern im kleinen, stillen, durchaus liebenswerten Glück. Dass Jesus dieser Versuchung widerstehen muss, verdeutlicht die Größe seines Opfers.
Mit D IE LETZTE V ERSUCHUNG C HRISTI gelang Scorsese ein ebenso packender und aufwühlender wie zärtlicher und berührender Film, über einen fiktiven Jesus, wie er nicht in der Bibel steht. Unabhängig von religiösen Deutungen erforscht der Film das vielfältige und oft widersprüchliche Verhältnis zwischen Idealen und Wirklichkeit, spirituellem und persönlichem Glück. Die intensive Geschichte und die wunderbaren, epischen Bilder verbinden sich – trotz mancher Längen und störender Fönfrisuren – zu einem insgesamt überzeugenden poetischen Werk, das nachdenklich stimmt: sei es über Gott, Gottes Sohn oder auch «nur» das Leben.
Jesus als «Lüstling» – der Skandal
Schon die Romanvorlage von Nikos Kazantzakis
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