Skelett
im Spiegel sah, blickte er sofort wieder weg. Er hatte sein Spiegelbild noch nie gemocht. Kurz nachdem er auf die Klingel gedrückt hatte, öffnete Lucinda die Tür, und Tweed wusste, dass es ein Fehler gewesen war, selbst zu kommen. Lucinda, die einen weißen Pullover, eine weiße Hose sowie goldfarbene Schuhe und einen goldfarbenen Gürtel trug, ließ ihn herein. Sie schloss die Tür hinter ihm und sperrte sie von innen ab.
»Geben Sie mir doch Ihren Mantel«, sagte sie mit ihrer sanften Stimme, die Tweed so unwiderstehlich fand. »Und bitte, schicken Sie mir nicht noch einmal einen Ihrer Laufburschen, das gehört sich nicht. Wenn Sie etwas von mir wollen, dann kommen Sie bitte selbst - was immer es auch sein mag. Darf ich Ihnen einen Brandy anbieten?«
»Ich hätte lieber ein Glas Chardonnay.«
»Auch das ist möglich. Vielleicht nehmen Sie inzwischen schon mal Platz?«
Sie deutete auf einen Sessel neben der Couch, der eher einer etwas zu kurz geratenen Chaiselongue glich. Irgendwie kam es Tweed so vor, als hätte sie ihn in Erwartung seines Besuchs extra ganz nahe an die Couch gerückt. Als Lucinda mit den Getränken kam, war Tweed immer noch bemüht, aufrecht auf dem Sessel zu sitzen, was ein schier unmögliches Unterfangen war. Auf diesem Möbelstück konnte man sich eigentlich nur flach hinlegen. Lucinda stellte die Getränke auf den Beistelltisch und drapierte sich lasziv auf der Couch. Tweed reichte ihr den Brandy, und sie stießen miteinander an.
»Auf uns«, sagte sie mit einem hinreißenden Lächeln.
»Das sollten wir in Zukunft öfter machen.«
»Lucinda«, sagte Tweed mit fester Stimme, »ich bin gekommen, um Ihnen einige Fragen im Zusammenhang mit den Mordfällen zu stellen, in denen ich ermittle.«
»Deswegen können Sie sich doch trotzdem entspannen, oder etwa nicht? Das ist gut für Ihr Denkvermögen.«
»Ich möchte, dass Sie mir Lee Charlton beschreiben. Größe, Gewicht und so weiter. Welche Haarfarbe hat sie?«
»Sie sind doch hoffentlich nicht gekommen, um mich über eine andere Frau auszufragen, oder? Wie langweilig. Aber wenn es denn sein muss, bitte: Lee ist etwas über einen Meter fünfundsechzig groß, würde ich sagen, wiegt gute fünfzig Kilo und hat wunderschönes braunes Haar.«
Fast hätte Tweed sich an seinem Chardonnay verschluckt. Die Beschreibung, die Lucinda ihm gegeben hatte, passte genau zu der, die Saafeld ihm von der im Dartmoor gefundenen weiblichen Leiche hatte zukommen lassen. Lucinda strich sich eine Strähne ihres blonden Haars aus dem Gesicht und legte Tweed eine Hand auf den Oberschenkel.
»Wozu wollen Sie das alles wissen?«, fragte sie.
»Reine Routine. Wir brauchen eine genaue Beschreibung von allen Menschen, die in irgendeiner Weise mit diesem Fall zu tun haben. Für unsere Akten.«
»Ich hoffe doch, dass es Lee gut geht«, sagte sie zögerlich.
»Darüber müsste eigentlich ihr Mann Bescheid wissen. Wann hat sie ihn denn verlassen?«
»Ich dachte, das hätte ich Ihnen schon erzählt. Das war vor drei oder vier Monaten. Möglicherweise ist sie in die Vereinigten Staaten geflogen. Sie hat dort eine Freundin in Richmond, Virginia.«
»In welcher Verbindung stand sie zu Gantia?«
»Sie wollen aber wirklich alles ganz genau wissen«, sagte Lucinda lächelnd und strich Tweed mit ihrem Zeigefinger langsam über die Wange. »Mmh, frisch rasiert«, schnurrte sie. »Meinetwegen?« Weil Tweed keine Antwort gab, seufzte sie leise. »Ist ja schon gut, Sie kriegen Ihre Antwort. Lee steht Drago sehr nahe. Aus irgendeinem mir nicht bekannten Grund mag er sie und vertraut ihr.«
»Und worin zeigt sich das?«
»Lee hat einen Generalschlüssel zu allen Anlagen der Firma bekommen. Den haben bei uns sonst nur die leitenden Direktoren - Michael, Larry, Lees ungeliebter Ehemann Aubrey und meine Wenigkeit. Manchmal ist Lee mitten in der Nacht auf dem Werksgelände aufgetaucht, um zu überprüfen, ob die Büroräume der Direktoren ordnungsgemäß abgesperrt sind.«
»Allein nur deshalb soll sie mitten in der Nacht zu Gantia gefahren sein? Das ist doch mehr als seltsam.«
»Ich weiß. Aber vielleicht ist der wahre Grund ja, dass sie das Büro ihres Mannes nach Beweisen für seine Seitensprünge durchsucht hat. Das habe jedenfalls ich immer vermutet.«
»Was ist sie für ein Mensch?«
»Lee ist hochintelligent und sprüht vor Leben. Vielleicht ein bisschen zu neugierig, aber ich mag sie. Sie ist so lebendig.«
Jetzt nicht mehr, wenn ich mich nicht irre, dachte Tweed
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