Skiria: Am Berg der Drachen (German Edition)
Drachenmutter hatte den Angriff nicht überlebt.
Am nächsten Tag zogen sie weiter. Es erschien zwecklos, einen weiteren Ausreißversuch zu unternehmen. Nachdem sie längere Zeit im Schatten der Bäume gewandert waren, erreichten sie einen schmalen Wasserlauf, der glucksend zwischen von Herbstlaub bedeckten Steinen plätscherte. Ihr Anführer ordnete eine kurze Rast an.
„Geht und sucht Pilze, damit wir den Tag nicht hungrig beenden müssen“, knurrte Rabanus.
Widerstrebend befolgte Agata seine Anweisung, während sie Karol, der hinter ihr her stolperte, demonstrativ ignorierte.
Als sich die beiden entfernt hatten, näherte sich Rabanus der Gefangenen, die ängstlich zurück wich, betont langsam und mit grimmigem Blick.
„Was willst du?“, fragte Skiria, Böses ahnend.
Statt einer Antwort packte Rabanus ihre Arme und zog das Mädchen dicht an sich heran. Jäh griff er an ihren Hinterkopf, fasste in ihre Haare und riss kräftig daran, sodass sie nun gezwungen war, zu ihm aufzusehen. Ihren Aufschrei erstickte Rabanus mit seinem Mund, der sich fest auf Skirias Lippen presste, während seine Hand versuchte, unter ihren Rock zu greifen.
Sie versuchte zuerst, ihn unter Aufwendung all ihrer Kraft von sich weg zu drücken. Als dies keinen Erfolg zeigte, schlug sie mit ihrer Faust immer wieder auf seinen Rücken ein. Doch erst, als sie auf seinen Kopf zielte, ließ er ein wenig locker, aber nur, um sie im nächsten Moment mit einem geübten Griff um ihre Taille zu Fall zu bringen. Am Boden liegend, wand sich Skiria und brüllte aus Leibeskräften, als er über sie stieg.
„Stell dich nicht so an!“, blaffte Rabanus unwirsch.
In diesem Moment kehrte Karol frühzeitig von seiner Suche zurück, um den beiden voller Stolz seinen Fund zu überbringen. Strahlend hielt er einen mächtigen Schirmling in seinem ausgestreckten Arm.
„Seht nur! Und dort hinten sind noch viel mehr!“
Der Knabe wies mit seinem Zeigefinger in die Richtung, aus der er gekommen war. Erstaunt erkannte Karol, der ein Lob erwartet hatte, dass sein Anführer wenig erfreut schien. Zornig ließ Rabanus von Skiria ab und erhob sich. Der törichte Bengel hatte ihm alles verdorben.
Der alte Hojomor wirkte in den letzten Tagen zerstreuter als je zuvor. Er vergaß, seinem morgendlichen Ritual folgend, zum nahegelegenen Bach zu marschieren, vergaß, zu jagen, oder sich zur üblichen Zeit Schlafen zu legen. Dafür fand er sich plötzlich irgendwo im Wald wieder und fragte sich, was er hier eigentlich wollte.
Seine Gedanken galten einzig Skiria und Ramin. Ging es ihnen gut? Wo befanden sie sich jetzt? Hatten sie Ramira gefunden? Ständig beschäftigten ihn diese Fragen, sodass er sich bald auf nichts anderes mehr konzentrieren konnte. Er wirkte nervös. Ein Zustand, der Hojomor normalerweise fremd war. Die ständige Anspannung schien sich auf seine Gesundheit auszuwirken. Mehr denn je spürte der betagte Drache, dass er sich nicht mehr zu den Jüngsten zählen konnte. Nahezu ständig kämpfte er mit Müdigkeit und Schwäche, bis er schließlich davon überzeugt war, dass eine schlimme Krankheit in ihm wütete.
Als Hojomor an diesem Morgen aufwachte, schmerzten seine Glieder, als hätte jemand während der Nacht zentnerschwere Gewichte daran gehängt. Der Versuch, etwas Wasser zu trinken, rief ein unangenehmes Brennen in seinem Rachen hervor. Seine Schuppen wirkten spröde, so als müsse er fürchten, dass sie jeden Augenblick auseinander bröselten. Mit geschlossenen Augen lag Hojomor schicksalsergeben in der Obhut seiner Höhle, um auf den Tod zu warten.
Der Tod klang sonderbarerweise seltsam vertraut.
„Hojomor!“, rief er. „Onkel Hojomor!“
Mit dröhnenden Schritten schien er sich zu nähern. So war das also. Hojomor hatte sich das Sterben anders vorgestellt, erst recht, als der Sensenmann unsanft seinen kranken Körper rüttelte.
„Onkel Hojomor, wach auf! Was ist geschehen?“
Mühsam hob der Todkranke ein Lid, während sich das andere Auge einfach nicht öffnen ließ. Eine klebrige Masse hatte sich im Schlaf darin gebildet, die nun dafür sorgte, dass Hojomor einäugig dem Jenseits entgegen blicken musste.
Vor ihm stand Ramin. Ein gehöriger Schreck durchfuhr den alten Drachen. War der Neffe bei der Durchführung seines Vorhabens etwa gescheitert, um an diesem jenseitigen Ort wieder mit dem Onkel zusammenzutreffen? Eine schreckliche Vorstellung. Hojomors Blick streifte kurz die Umgebung, in der sie sich
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