Sklaven der Begierde
sagte sie. „Jemand hat mir ein Flugticket zugeschickt. Und eine Einladung, dich zu besuchen. Ich konnte es gar nicht fassen.“ Sie nahm sein Gesicht in ihre behandschuhten Hände und küsste ihn auf beide Wangen.
„Ich konnte es auch nicht glauben, bis ich dich gesehen habe. Eigentlich kann ich immer noch nicht so recht glauben, dass du wirklich hier bist.“
„Aber wie …“ Sie schüttelte den Kopf, und dunkle Haarsträhnen wehten ihr übers Gesicht. „Waren es grand-mère und grand-père? Hast du …“
Er verdrehte dramatisch die Augen. Kaum war sie da, fiel er wieder in seine alten französischen Angewohnheiten zurück. „Das ist eine lange Geschichte. Ich erzähl es dir – aber nicht jetzt.“
„Es ist mir auch ganz egal. Hauptsache, ich bin hier, und du bist hier, und wir sind endlich wieder zusammen.“ Wieder schloss sie ihn in die Arme, und Kingsley umarmte sie ebenfalls.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass er und Marie-Laure nicht mehr allein in der Kälte waren. Etliche der anderen Jungen waren nach draußen gekommen, zweifellos, um einen besseren Blick auf Marie-Laure werfen zu können. Sie hatten seit Monaten kein weibliches Wesen mehr gesehen – oder zumindest keine junge Frau, die kein Keuschheitsgelübde abgelegt hatte.
Hinter ihnen ertönte Father Henrys freundliche Stimme. „Ah, das ist gewiss die Schwester.“ Er schüttelte Marie-Laures Hand. „Bonjour, Mademoiselle.“
Kingsley nahm den Arm seiner Schwester, und der Priester führte sie in sein Büro. Er hörte kaum zu, als Father Henry Marie-Laure willkommen hieß und sich schon mal im Voraus für jegliche Flirtversuche der Jungen entschuldigte.
„Normalerweise erlauben wir keine weiblichen Besucher“, erklärte der Priester und kam ganz leicht ins Stammeln. „Zumindest keine unverheirateten weiblichen Besucher. Oder Frauen, die nicht zu einem Orden gehören. Aber Mr Stearns hat mir die Situation erklärt. Dass ihr beide seit dem Tod eurer Eltern getrennt seid. Und wir freuen uns, Sie für die Dauer Ihres Besuches bei uns aufzunehmen. Kingsley muss natürlich weiter zum Unterricht und auch seine Hausaufgaben erledigen. Sie sind selbstverständlich zu allen Mahlzeiten im Speisesaal willkommen. Und es gibt private Gästezimmer im oberen Stockwerk dieses Gebäudes. Einer der Jungen bringt gleich Ihr Gepäck hoch.“
„Merci, mon père.“ Marie-Laure schenkte dem Priester ein strahlendes Lächeln, und Father Henry lief vom Kragen bis zur Glatze rot an.
Kingsley hätte beinahe losgelacht. Seine Schwester hatte auf Männer denselben Effekt, den er auf Frauen hatte. Keiner von ihnen brauchte für eine Eroberung je mehr als ein Lächeln.
Sie gingen direkt in ihr Zimmer in der obersten Etage des Bürogebäudes. Sie sah sich um und lachte, als sie die vielen religiösen Symbole sah, die Kruzifixe, die Heiligenbilder, die Statuen der Jungfrau Maria.
„Eine katholische Schule?“ neckte sie. „Papa dreht sich im Grabe herum.“
Kingsley lachte ebenfalls und zuckte mit den Schultern. „Ich weiß. Es war auch nicht meine Idee, das kannst du mir glauben. Aber die Jungen an meiner alten Schule hassten mich.“
„Ohne Frage deshalb, weil du ihre Freundinnen und Schwestern verführt hast.“ Sie drohte ihm scherzhaft mit dem Zeigefinger.
„Na ja, schon. Aber mit dem Messer auf mich einzustechen war vielleicht doch eine etwas übertriebene Reaktion.“
Ihre Augen weiteten sich. „Eine Messerattacke? Du hast gesagt, es wäre nur ein Kratzer.“
„Ein tiefer Kratzer.“
„Ich weiß nicht, ob Papa stolz auf dich wäre oder ob er selbst versuchen würde, dich umzubringen.“
„Beides“, vermutete Kingsley, und sie lachten. „Und was ist mit dir? Brichst du immer noch jedes Männerherz in Paris?“
„Natürlich.“ Sie setzte sich neben ihn aufs Sofa und schlug ihre graziösen muskulösen Beine übereinander. „Ich muss doch ihre Herzen brechen, bevor sie meins brechen können.“
„Du solltest dir einen reichen alten Mann suchen und ihn heiraten. Er würde bald sterben und dir sein ganzes Vermögen hinterlassen. Dann könntest du mit mir in Amerika bleiben.“
„In Amerika bleiben? Warum sollte ich das tun? Wenn ich einen reichen Mann hätte, würde ich dich von diesem schrecklichen Ort wegholen und dich mit zurück nach Paris nehmen.“
Er lehnte sich zurück und legte den rechten Knöchel auf sein linkes Knie. „Ich weiß nicht. Ich glaube, es könnte mir hier gefallen. Amerika … ist gar nicht so
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