Sklaven der Begierde
und drückte ihre Hand.
„Ich auch. Aber dich habe ich noch mehr vermisst. So sehr … so sehr, dass ich dachte, ich würde vor Sehnsucht sterben.“
Er schüttelte den Kopf. „Stirb nicht. Jetzt sind wir ja zusammen.“
Die Musik schwoll an, in diesem betörenden Rhythmus, und Marie-Laure wandte ihr Gesicht der Kapelle zu.
„Können wir reingehen und zuhören?“
Er führte sie hinein, aber sobald sie die Schwelle überschritten, spürte er tief in seinem Inneren einen Widerstand. Etwas in seiner Seele warnte ihn davor, weiterzugehen, forderte ihn dazu auf, umzukehren, zurück ins Freie … Die Pianoklänge wurde lauter, denn sie näherten sich ihrer Quelle. Kingsley schüttelte die seltsame Furcht ab, die ihn plötzlich gepackt hatte. Marie-Laure folgte der Musik wie hypnotisiert, mit so großen verträumten Augen, als sei sie ein Kind, das dem Rattenfänger von Hameln nachlief.
An der Tür zum Altarraum blieben sie stehen und schauten hinein. Søren saß an dem alten abgenutzten Flügel, ohne Jackett, die Ärmel seines Hemdes bis zu den Ellbogen aufgerollt, sodass seine muskulösen Unterarme zu sehen waren. Er spielte das Stück mit so atemberaubender Virtuosität und Leidenschaft, dass es Kingsley wieder einmal so vorkam, als erwecke er die Musik zum Leben.
Er schloss die Augen, und die Klänge berührten ihn, tanzten über ihn hinweg, kitzelten sein Gesicht, strichen durch sein Haar, flüsterten ihm Geheimnisse ins Ohr.
Oh Gott, er liebte Søren so sehr. Liebte ihn wie einen Vater, wie einen Bruder, wie einen Freund und wie einen Partner … und wie einen Feind, der ihn dazu zwang, stärker, klüger, weiser und tapferer zu werden. Søren war alles für ihn geworden … Kingsley öffnete die Augen und sah nicht Søren, sondern Gott am Flügel sitzen. Und er wusste in diesem Moment, dass er gut gewählt hatte, dass er den richtigen Mann anbetete. Vor dem er, wenn es verlangt wurde, hier und jetzt auf die Knie sinken würde.
Er spürte, wie Marie-Laures Hand in seiner erbebte, und das brachte ihn zurück in die Welt. Er sah seine Schwester an und lächelte. Endlich verstand er. Søren hatte sie für ihn hierher gebracht, für Kingsley. Er hatte das aus Freundlichkeit getan, aus Barmherzigkeit. Es war eine Gnade. Und wie alle Geschenke Gottes war es eine Gabe der Liebe.
Søren liebte ihn. Davon war er jetzt aus tiefster Seele überzeugt. Diese schrecklichen Psychospiele waren einfach nur … Spiele. Søren bestrafte ihn mit Schweigen und schenkte ihm dabei gleichzeitig die größtmögliche Aufmerksamkeit. Er beleidigte ihn, um ihm unmittelbar danach den leidenschaftlichsten aller Küsse zu gewähren. Er sagte, dass Kingsley ihm nichts bedeute, und verbrachte anschließend die halbe Nacht in ihm.
Søren liebt mich. Søren liebt mich. Søren liebt mich .
Der Refrain in seinem Herzen passte zum drängenden Pulsschlag der Musik. Kein anderer Mensch konnte die Liebe, die sie füreinander hegten, verstehen, und schon gar nicht die Art, wie sie diese Liebe zeigten. Nur Søren, Kingsley und die Musik wussten darüber Bescheid, und die Musik würde es niemals weitersagen.
„Mon dieu …“ hauchte Marie-Laure, die Augen mit starrem Blick auf Søren gerichtet.
Und plötzlich wurde Kingsley wieder von dieser seltsamen, kalten Furcht gepackt.
Oh nein – nicht auch sie. Jeder, aber nicht seine Schwester …
Sie zog ihre Hand aus seiner und hielt sie von sich weg. Kingsleys Augen weiteten sich angstvoll, als er das leichte Zittern bemerkte.
„Mon dieu“ , hatte sie geflüstert. Mein Gott .
Kingsley griff wieder nach ihrer Hand und zog sie an seine Brust. Er würde sie schon festhalten, seine Schwester, sodass sie sicher war vor dieser Liebe, die ihre Seele in Besitz nehmen würde wie ein Dämon.
„Du brauchst keine Angst zu haben.“ Er küsste sie auf den Handrücken und lächelte sie an. Aber es war ein falsches Lächeln, das nur ein Ziel verfolgte: den Zauber der Musik zu brechen – und den des blonden Pianisten, der sie spielte. „Das macht er mit jedem.“
NORDEN
DIE GEGENWART
Er ließ den Rolls-Royce vor dem Stadthaus stehen. Jeder kannte Kingsley Edge und den silberfarbenen Rolls, der ihn durch Manhattan beförderte. Und heute brauchte er Anonymität. Also ging er noch einmal in sein Schlafzimmer und zog sich um: schwarze Jeans, graues T-Shirt, Lederjacke. Er setzte eine Sonnenbrille auf und band sein langes Haar zu einem tief sitzenden Pferdeschwanz zurück.
Hinter dem Haus befand sich
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