Sklaven der Begierde
aus der Nachttischschublade. Er konnte ihre Angst und Erregung jetzt förmlich riechen, eine wahrhaft überwältigende Kombination. Noch immer hinter ihr stehend, öffnete er seine Hose.
Die Tür seines Schlafzimmers öffnete sich, und Søren trat ein. Er zog bei dem Anblick, der sich ihm bot, kaum merklich die Brauen hoch und ließ sich dann in den Armsessel neben Kingsleys Bett fallen. Seine langen Beine legte er – samt Schuhen – auf die edle Tagesdecke.
„Wir müssen reden.“
Kingsleys Blick hätte bei jedem Sub im achten Zirkel einen Panikanfall ausgelöst. Søren starrte gleichmütig zurück, ohne mit der Wimper zu zucken.
Mit einem frustrierten Seufzer löste Kingsley die diversen Knoten und gab dem Mädchen einen Klaps auf den Po. „Raus“, beschied er in ärgerlichem Ton.
„Aber …“ Sie sah erst ihn an, dann Søren, der Gott sei Dank in Zivil gekommen war. Kein Priesterkragen. Er trug ein schwarzes T-Shirt und schwarze Hosen. Seinen schwarzen Motorradhelm hielt er in der Hand.
„Raus“, sagte Søren, und diesmal kam die Botschaft an. Rasch raffte sie ihre Kleidungsstücke vom Boden zusammen und rannte aus dem Zimmer. Bevor Kingsley die Tür hinter ihr schließen konnte, schlüpfte Sadie, das Mädchen, dass er am zweitliebsten auf der Welt mochte, an ihm vorbei und ließ sich zu seinen Füßen nieder.
„Schon mal was von Anklopfen gehört?“, fragte Kingsley auf Französisch. Er packte die anhängliche Rottweilerhündin beim Halsband und zog sie zum Bett. Sie hüpfte flink auf die Decke und machte es sich bequem.
Søren lächelte. „Ich habe Gerüchte darüber gehört“, sagte er auf Englisch, „aber nie wirklich ans Anklopfen geglaubt.“
„Ich hatte Pläne für einen wundervollen Abend.“
„Jetzt hast du einen neuen Plan. Ich habe angerufen. Am Telefon war Irena, nicht Juliette.“
„Juliette ist nicht da.“ Kingsley setzte sich neben Sadie aufs Bett und kraulte ihre Ohren.
„Wo ist sie denn?“
„Haiti. Sie ist heute geflogen.“ Er kraulte Sadie sehr angelegentlich und mied Sørens Blick.
„Du lässt Juliette doch nie allein nach Haiti fliegen.“
Kingsley hob den Kopf. „Besondere Umstände.“
„Wie besonders?“ Søren nahm die Beine vom Bett und setzte sich aufrecht hin. Mit dieser einen Bewegung signalisierte er, dass der zwanglose Teil der Unterhaltung nunmehr vorüber war.
„Ich habe einen Geist gesehen.“
Søren hob die Hand und rieb mit dem Daumen über seine Unterlippe, eine unbewusste Geste, auf die Kingsley dennoch sofort reagierte. Reflexartig biss er auf seine eigene Unterlippe. Was dieser Mund, der so grausam und gleichzeitig so sinnlich war, ihm alles angetan hatte, vermochte er nicht mal ansatzweise zu ermessen. Und doch verzehrte er sich noch immer nach diesen Lippen, so leidenschaftlich und so verzweifelt wie damals.
„Ich glaube nicht an Geister, und du solltest das auch nicht tun, Kingsley.“
„Warum nicht? Ich bin seit dreißig Jahren in einen Geist verliebt.“ Kingsley ging zum Sessel und setzte sich auf den gepolsterten Schemel zwischen die leicht gespreizten Beine des anderen Mannes.
Søren sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. „Die Leiche ist noch nicht mal kalt. Eleanor ist erst einen Tag weg, und schon versuchst du mich wieder ins Bett zu kriegen?“
„Was heißt hier ‚wieder‘?“ Kingsley lachte und verdrehte die Augen. „Immer. Überrascht dich das etwa?“
Søren zuckte mit den Schultern. „Nein, eigentlich nicht. Erzähl mir von deinem Geist.“
Auf dem Nachttisch lag ein Ordner. Beinahe widerwillig nahm er ihn an sich und reichte ihn Søren.
Der sah ihn ein paar Sekunden lang prüfend an, bevor er die schwarze Akte an sich nahm und öffnete. Er begutachtete den Inhalt sorgfältig, dann klappte er den Deckel zu und warf Kingsley einen fragenden Blick zu.
„Das sind wir in St. Ignatius. Eleanor hat auch einen Abzug von diesem Foto. Was ist damit?“
Kingsley griff sich den Ordner und öffnete ihn. Zwischen seinen Augen und dem Foto, auf das sie schauten, lagen ungefähr dreißig Zentimeter. Dreißig Zentimeter, auf denen dreißig Jahre einfach so verschwinden konnten. Dreißig lange Jahre, verschwunden von einer Sekunde auf die andere.
Er konnte sich noch ganz genau an den Tag erinnern, an dem die Aufnahme entstand. Christian, sein bester Freund in St. Ignatius, hatte zu Weihnachten einen Fotoapparat bekommen und beschlossen, dass er später mal für National Geographic arbeiten würde. Und die
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