Sklaven der Begierde
ersten „Tiere“, die er mit seiner Kamera verfolgte, waren seine Mitschüler. An jenem Tag, dem Tag, an dem das Foto geschossen wurde, waren Kingsley und Søren im Wald neben der Schule gewesen und hatten gestritten. Kingsleys Rücken und seine Schenkel waren von Blutergüssen und Striemen übersät, aber seine Schuluniform verbarg den größten Schaden. Die einzigen sichtbaren Male waren zwei kleine blaue Flecke auf seinem Hals, die die Form von Fingerkuppen hatten. Sie rührten von dem Akt her, der den Streit beendet hatte.
„Ich habe ebenfalls einen Abzug davon“, bekannte Kingsley. „Ich habe ihn all die Jahre behalten.“
„Und?“ Søren legte den Knöchel des einen Beines über das Knie des anderen und wartete auf eine Antwort.
„Und …“ Kingsley nahm das Foto aus dem Ordner und drehte es um. Auf der Rückseite hatte jemand ihre Initialen geschrieben. Das ursprünglich weiße Zelluloid war vergilbt. „Das ist nicht mein Abzug. Das ist das Original.“
Søren sah ihn scharf an. „Das Original?“
Kingsley nickte. „Es kam gestern mit der Post. Keine Notiz. Kein Brief. Kein Absender auf dem Umschlag. Nur das Foto in dem Aktendeckel, sonst nichts.“
Søren schwieg. Kingsley wartete.
„Wo wurde der Brief abgestempelt?“
„New Hampshire. Dein home sweet home.“
Søren stand langsam auf und ging zum Fenster. Er schob den Vorhang zur Seite und starrte auf die berühmte Skyline von Manhattan. In diesem Moment hätte Kingsley dem Mann vom Fleck weg einen Scheck über eine Million Dollar ausgestellt, nur um zu erfahren, was er gerade dachte. Aber er kannte Søren zu gut, um so ein Angebot zu machen. Geld bedeutete ihm nichts. Geheimnisse waren für ihn die weitaus bessere Währung.
„Elizabeth ist es auf keinen Fall“, sagte Søren. Kingsley stellte sich neben ihn und sah den stahlgrauen Augen dabei zu, wie sie die Stadt betrachteten.
„Bist du da ganz sicher?“
„Was für ein Motiv könnte sie haben? Warum sollte sie Eleanors Akte aus deinem Büro stehlen? Und warum sollte sie dir dieses Foto schicken?“
„Du kennst Elizabeth doch besser als ich. Und du weißt ganz genau, dass sie es als ihre Lebensaufgabe betrachtet, missbrauchten Kindern zu helfen.“
„Ja, und weiter?“
„Du und deine Kleine? Ich kann mir nicht vorstellen, dass Elizabeth begeistert wäre, wenn sie von euch beiden erfahren würde.“
„Eleanor ist vierunddreißig.“
„Aber sie war nicht vierunddreißig, als du dich in sie verliebt hast. Ich weiß, dass du ihr nichts getan hast. Ich weiß, dass du für ihre Sicherheit gesorgt und alles darangesetzt hast, sie zu beschützen, sogar vor dir selbst. Obwohl dein Haustier dich damals angefleht hat, das nicht zu tun. Aber würde Elizabeth das so sehen?“
Søren atmete tief ein und runzelte die Stirn.
„Nein. Nein, Elizabeth würde es nicht so sehen. Sie würde das Schlimmste vermuten. Sie würde davon ausgehen, dass ich so war wie unser Vater.“
„Deine Schwester ist noch geschädigter als du. Sie würde dich erst zerstören und käme nicht mal drauf, später irgendwelche Fragen zu stellen.“
„Wahrscheinlich. Aber sie würde ganz sicher nicht so einen Aufwand betreiben, wenn es ein einziger Anruf genauso täte.“
„Elizabeth würde alles tun, was in ihrer Macht steht, um dich zu vernichten, wenn sie von dir und deinem Haustier wüsste. Aber du hast recht, das hier ist irgendwie nicht ihr Stil. Dasselbe gilt übrigens für dein Haustier.“ Als er „Haustier“ sagte, hob Sadie ihren mächtigen Kopf und sah ihn mit unendlicher Hingabe an. Ach, wenn doch bloß alle Frauen in seinem Leben so leicht zu kontrollieren wären …
Kingsley betrachtete gedankenverloren das Foto. Elizabeth, Sørens Schwester – noch mit achtundvierzig Jahren eine sehr schöne Frau. Schön, aber zerbrochen. Nein, mehr als zerbrochen. Zerschmettert. Kingsley war ihr nur ein paarmal begegnet, aber das war genug gewesen. Er hatte französische Soldaten getroffen – Weltkriegsveteranen, Männer, die Todeslager befreit hatten, Männer, die erlebt hatten, wie die Nazis Paris in ihre Gewalt brachten … die weniger Geister der Vergangenheit mit sich herumschleppten als Sørens Schwester. Sie war als Kind von ihrem Vater vergewaltigt worden, aber wenn es dabei geblieben wäre, hätte ihre Psyche vielleicht nicht diesen schweren, unheilbaren Schaden genommen. Doch sie hatte den dunklen Schmerz, der ihr zugefügt worden war, gegen ihren Bruder gerichtet. Und als sie aufgehört
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