Sklaven der Flamme
dieser Stunde seinen Verdauungsspaziergang in der verlassenen Austern-Allee. Premierminister Chargill hatte immer die Schlüssel zu den Privatgemächern der königlichen Familie bei sich. An diesem Abend schwankte ein Betrunkener aus einer Seitengasse und stieß gegen den alten Mann. Einen Augenblick später zog er sich unter gestammelten Entschuldigungen zurück, den Kopf tief gesenkt, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Als der Betrunkene sich wieder in der Seitengasse befand, gab er seinen schwankenden Gang auf und nahm die Hände vom Rücken. Er besaß sämtliche Schlüssel zu den Privatgemächern der königlichen Familie.
Der Posten, der sich um das Alarmsystem kümmern sollte, liebte Blumen. Mindestens einmal in der Woche ging er während seiner Freizeit in ein Blumengeschäft. Daher war es nicht weiter überraschend, daß er genüßlich an dem Strauß aus roten Anemonen roch, den ihm eine alte Frau zum Kauf anbot. Seine Lungen füllten sich mit dem merkwürdigen Duft, einer Mischung aus Orangenschale und Seewind. Siebenundvierzig Sekunden später gähnte er. Noch vierzehn Sekunden später saß er mit vorgeneigtem Kopf am Boden und schnarchte. Durch das Tor konnte man erkennen, daß sich zwei Gestalten an der Alarmanlage zu schaffen machten – aber es war niemand da, der ihnen Einhalt gebot.
An einem anderen Palasteingang schnappten zwei Wachtposten einen vierzehnjährigen Jungen mit dunklem Haar und grünen Augen, der über den Zaun klettern wollte.
»He, komm da herunter! Na los, mach schon! Wo sind deine Papiere? Was soll das heißen – du hast keine? Du wirst uns jetzt begleiten. Nimm die Kamera, Jo. Wir müssen ihn fotografieren und das Bild ans Archiv des Hauptquartiers weiterleiten. Dort wird man uns schon sagen, wer du bist, Kleiner. Und nun halte still!«
Hinter ihnen kletterte eine weißhaarige Gestalt über das Gitter und verschwand im Schatten. Die Wächter bemerkten sie nicht.
»Stillhalten, Kind, ich brauche noch ein Bild von deiner Retina!«
Später führten ein paar Rowdies, angeführt von einem Hünen, um den Palast einen Höllenlärm auf. Die Posten hatten den Kleinen noch nicht in die Wachstube gebracht, und irgendwie gelang es ihm, bei der Verwirrung zu fliehen. Ein Wächter mit Uniformgröße 54 wurde bewußtlos geschlagen, aber sonst gab es keine Verletzten. Man verjagte die Rowdies, brachte den Bewußtlosen zur Krankenstation und ging wieder. Der Arzt ließ den Mann einen Moment lang im Wartezimmer allein, um aus dem Lagerraum auf der anderen Seite des Gebäudes einen Unfallmeldebogen zu holen. (Er hätte schwören können, daß noch fünf Minuten zuvor ein ganzer Block auf dem Schreibtisch gelegen hatte.) Als der Arzt mit dem Formular zurückkam, war der Soldat zwar noch da, aber jemand hatte ihn splitternackt ausgezogen.
Eine Minute später salutierte ein unbekannter Posten mit Uniform Größe 54 am Tor und wurde eingelassen.
Zwei fremde Männer jenseits der Palastmauer warfen ein beschwertes Seil über einen Mauervorsprung im dritten Stock. Einmal verfehlten sie ihr Ziel, beim zweitenmal trafen sie und zogen die Schlinge fest. Sie ließen das Seil einfach hängen.
Ein Posten mit Uniform Größe 54 kam durch den Korridor im Westflügel des Palasts, blieb an einem großen Portal mit silberner Krone (die Insignien der Königinmutter) stehen, holte die Schlüssel zu den Privatgemächern der königlichen Familie aus dem Rock und sperrte Ihre Majestät ein. Dann ging er zur nächsten Tür und sperrte Prinz Let ein. Dann ging er zur nächsten Tür.
Tel rannte bis zur Ecke und las das Straßenschild. Es stimmte. Also setzte er sich in eine Einfahrt und wartete.
Zur gleichen Zeit machte sich Prinz Let zum Schlafen bereit. Er trug nichts als sein Unterhemd, als er aus dem Fenster sah und ein weißhaariges Mädchen erblickte, das mit dem Kopf nach unten an der Jalousie hing. Er blieb stocksteif stehen. Das nach unten hängende Mädchen lächelte ihn an. Dann umfaßten ihre Finger die Verriegelung, und die beiden Glasflügel öffneten sich. Das Mädchen rollte einmal herum, drehte sich rasch um und kauerte plötzlich auf dem Fensterbrett.
Let nahm blitzschnell seine Schlafanzughose und rannte zur Tür. Als er sie verschlossen fand, streifte er rasch die Hose über.
Alter legte den Finger an die Lippen, als sie in das Zimmer kletterte. »Ganz leise«, flüsterte sie. »Und keine Angst. Die Herzogin Petra schickt mich – mehr oder weniger«, fügte sie
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