Sklaven der Flamme
der Erkrankten wurde ins Lazarett eingeliefert, aber die Ärzte hatten dennoch alle Hände voll zu tun. Es gab einen sonderbaren Zwischenfall, aber man schenkte ihm kaum Beachtung, da die Schreie der im Krampf zuckenden Menschen alles andere überlagerten. Zwei Männer verschafften sich Zutritt zum Empfangsraum des Lazaretts. Es gelang ihnen, alle eingelieferten Patienten kurz anzusehen. Als ein fünfzehnjähriges Mädchen mit auffallend weißem Haar hereingerollt wurde, versteiften sie sich. Der geschmeidige Körper der Kleinen war nun verkrampft. Unter der Decke konnte man eine Kette aus Lederriemen und Muscheln erkennen.
»Das ist sie«, sagte einer der Männer. Der andere nickte und sprach flüsternd mit dem Arzt, der den Kranken die Injektionen verabreichte.
»Unmöglich«, sagte der Arzt entrüstet. »Die Patienten benötigen zwei Tage strenge Bettruhe. Außerdem müssen sie ständig beobachtet werden. Die Widerstandskraft ist äußerst gering, und Komplikationen …«
Der Mann flüsterte dem Arzt etwas anderes zu und zeigte ihm ein paar Papiere. Der Doktor zuckte zusammen, sah ihn ängstlich an, verließ den Patienten, den er eben versorgte, und beugte sich über das eben eingelieferte Mädchen. Rasch gab er ihr zwei Spritzen. Dann sagte er zu den Männern: »Ich protestiere aufs schärfste gegen diese …«
»Schon gut, Doktor«, sagte der eine Mann. Der andere hob Alter von der Liege und trug sie ins Freie.
Die Königinmutter hatte ihren eigenen Thronsaal. Sie betrachtete aufmerksam die Fotos. Zwei davon zeigten in kräftigen Farben das Zimmer des Kronprinzen. Auf einem Bild saß der Prinz im Schlafanzug auf dem Bett und drückte mit dem Fuß gegen ein Brett; am Fenster stand ein weißhaariges Mädchen, das eine Muschelkette um den Hals geschlungen hatte. Das zweite Bild zeigte den Prinzen ebenfalls auf dem Bett. Er hatte die Hand auf den geschnitzten Delphin seines Bettpfostens gelegt.
Das dritte Bild schien durch ein Schlüsselloch fotografiert zu sein; es zeigte die starke Vergrößerung einer menschlichen Pupille; verschwommen sichtbar durch die Iris waren die Punkte und feinen Linien auf der Retina. Auf der breiten Lehne des Thrones lag ein Akt mit der Aufschrift: ALTER RONID.
Die Königinmutter nahm ihn auf und blätterte ihn durch: eine Geburtsurkunde, ein Foto mit dem gleichen Retinamuster, ein Vertrag mit einem Zirkus, der eine Saison lang eine Kinder-Akrobatentruppe beschäftigt hatte; Rechnungsabschriften einer dreijährigen Gymnastikausbildung; eine Arztrechnung für die Behandlung einer verrenkten Hüfte und zwei Adressänderungsformulare. Zwei Notizen verwiesen auf die Akten von Alla Ronid (Mutter verstorben) und Rara Ronid (Tante mütterlicherseits, gesetzlicher Vormund).
Die Königin legte die Fotos auf den Akt und wandte sich den Wachtposten zu. Dreißig Mann standen in Reih und Glied im Hintergrund des Saales. Sie hob das schwere, juwelenbesetzte Zepter und sagte: »Bringt sie herein.« Sie rückte die zwei grauen Haarschnecken über den Ohren zurecht, atmete tief ein, setzte sich aufrecht hin und starrte zur Tür hin.
In der Mitte des Saales hatte man zwei Blöcke errichtet, einen guten Meter hoch und dreißig Zentimeter voneinander entfernt.
Einmal stolperte Alter, aber der Posten fing sie auf. Man stellte sie zwischen die Blöcke, die ihr bis an die Schultern gingen, legte ihre Arme gestreckt auf die Kanten und schnallte sie am Bizeps und am Handgelenk fest.
Die Königin lächelte. »Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Wir möchten dir helfen.« Sie kam die Stufen des Thrones herab, das schwere Zepter in der Armbeuge. »Nur wir wissen etwas über dich. Wir wissen, daß du über einige Dinge informiert bist, die ich unbedingt erfahren muß. Ich war in den letzten Tagen sehr aufgeregt. Wußtest du das?«
Alter blinzelte und versuchte das Gleichgewicht zu bewahren. Die Blöcke waren so angebracht, daß sie nicht richtig stehen, aber auch nicht zusammenbrechen konnte.
»Wir wissen, daß du müde bist, und nach dieser Barbitid-Vergiftung – du fühlst dich nicht wohl, habe ich recht?« fragte die Königin. Sie kam noch näher.
Alter nickte.
»Wohin hast du meinen Sohn gebracht?« fragte die Königin.
Alter schloß die Augen, riß sie weit auf und schüttelte den Kopf.
»Glaube mir, wir haben genug Beweismaterial«, sagte die Königin. »Da.« Sie hielt die Fotos so hoch, daß Alter sie sehen konnte. »Mein Sohn hat diese Bilder aufgenommen. Sie sind völlig scharf,
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