Sklaven der Flamme
der Hand gegen die nackte Brust und sagte: »Quorl.« Wieder streckte er den Finger aus und wartete auf die Antwort des Jungen. Es kam keine. Schließlich zuckte der Mann mit den Schultern und winkte dem Jungen, ihm zu folgen. Der Junge stand langsam auf und folgte ihm. Sie marschierten durch die Wälder.
Während des Marsches erinnerte sich der Junge: der Schatten des schwankenden Flugzeugs über ihnen; sein Aufschlagen; ein Berg Wasser, der auf das Schiff zukam; das Feuer.
Hatte es nicht eigentlich schon im Palast begonnen, als er den ersten verborgenen Mikroschalter mit dem Fuß auslöste? Die Kameras funktionierten wahrscheinlich, aber die Sirenen hatten nicht aufgeheult, und kein einziger Wachtposten war ihm zu Hilfe gekommen. Es war schlimmer geworden, als er auf den zweiten Knopf am Bettpfosten drückte. Er hatte beinahe den Kopf verloren, als er das Mädchen endlich dazu brachte, durch das Schlüsselloch zu sehen – und nichts geschah. Man hatte ihn weggebracht, und seine Mutter blieb ruhig in ihrem Zimmer. Die Geschehnisse lockten ihn immer weiter von der Wirklichkeit fort. Wie konnte jemand den Prinzen entführen? Noch mehr hatte ihn die Behandlung verwirrt, die ihm der Junge und das Mädchen zuteil werden ließen. Wenn ein Prinz schon entführt wurde, erzählte man ihm dann Geschichten vom Sonnenuntergang am Meer? Brachte man ihm verrückte Tricks bei?
Er war überzeugt davon, daß das Mädchen ihn hatte umbringen wollen, als sie ihm befahl, vom Dach zu springen. Aber er mußte tun, was ihm befohlen wurde. Er hatte es immer getan. (Er folgte dem Riesen über die toten Blätter, weil er es ihm befohlen hatte.) Als er sich abgerollt hatte und vom Dach gesprungen war, wollte er zuerst nicht glauben, daß er noch lebte. Der Schock hatte wieder ein Stück Wirklichkeit fortgerissen.
Vielleicht, wenn er geblieben wäre, wenn er sich noch länger mit dem Mädchen und dem Jungen unterhalten hätte – vielleicht wäre es ihm dann gelungen, wieder Beziehung zur Wirklichkeit zu gewinnen. Aber dann waren der schwarzhaarige Mann und der narbige Hüne gekommen und hatten ihn weggebracht. Er hatte einen letzten Versuch gemacht, Sein und Schein voneinander zu trennen. Er hatte dem Mann die Geschichte von den Bergwerkssträflingen erzählt. Sie stellte eine Erinnerung aus der unmittelbaren Vergangenheit dar.
Aber der Mann hatte gesagt, daß es sich nicht um »Schein«, sondern um »Sein« handelte, daß die Geschichte kein Märchen, sondern Tatsache war. Hier war ein Faden gerissen, dort noch einer.
Er hatte ein Dröhnen gehört, als er sich auf dem Deck befand. Er hatte aufgeschrien. Dann ein Schatten. Dann Wasser. Er rutschte aus, und das Geländer glitt vorbei. Dann Donner. Dann Schreie, seine eigenen Schreie: Ich kann nicht sterben! Ich darf noch nicht sterben! Etwas zerbrach in zwei Teile.
Die Blätter zitterten, die ganze Erde zitterte unter seinen müden, unsicheren Beinen. Als sie durch den Wald marschierten, riß der letzte Faden. Er hatte nur noch verschwommen die Erinnerung, daß ihn irgend jemand irgendwo gebeten hatte, irgend etwas nicht zu vergessen, auf keinen Fall zu vergessen … aber was es war, wußte er nicht mehr genau.
Quorl, den Jungen neben sich, ging quer durch den Wald. Der Boden stieg jetzt an. Felsbrocken, mit Moos bewachsen, schoben sich hier und da aus dem Laub. Einmal hielt Quorl an und nahm den Jungen hart am Arm.
Ein paar Meter vor ihnen teilten sich die Blätter, und zwei hochgewachsene Frauen traten ins Freie. Sie sahen ganz gleich aus – blauschwarze Augen, Plattnasen, breite Wangenknochen. Zwillingsschwestern, dachte der Junge. Und beide Frauen hatten an der linken Wange drei lange Narben. Sie beachteten weder Quorl noch den Jungen, sondern verschwanden wieder im Wald. Sobald sie außer Sichtweite waren, ging Quorl weiter.
Sehr viel später erreichten sie eine Klippe. Der Boden dahinter fiel steil ab und stieg auf der gegenüberliegenden Seite wieder zu einem Berg an. Neben einem breiten Baumstamm lag ein Häufchen aus Reisig und Blättern. Quorl kniete nieder und begann die Blätter zur Seite zu schieben. Der Junge beobachtete ihn genau.
Die großen braunen Finger mit den bronzeschimmernden Nägeln machten behutsam einen Käfig frei, der aus Stöcken und Lianen zusammengeflochten war. Etwas quiekte in dem Käfig, und der Junge zuckte zusammen.
Quorl öffnete mit einer raschen Handbewegung die Tür und faßte ins Innere. Das Quieken steigerte sich zu einem plötzlichen
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