Sklaven der Flamme
Hünen hinauf.
»Du verstehst das nicht«, sagte Quorl wieder. Dann sah er den Jungen an und schwieg eine Zeitlang. »Nein, du kannst es nicht verstehen«, wiederholte er. »Komm.« Sie bogen vom Hauptweg ab und gingen langsamer. »Es ist – ein Brauch. Ein wichtiger Brauch. Ja, ich weiß, daß er Schmerzen litt. Ich weiß, daß er Angst hatte. Aber es mußte sein. Tloto ist einer von jenen, die –« (Das Wort hatte irgend etwas mit »wissen« zu tun.) Quorl schwieg einen Moment. »Ich werde versuchen, dir zu erklären, weshalb ich deinem Freund weh tun mußte. Ja, ich weiß jetzt, daß er dein Freund ist. Einmal sagte ich, daß Tloto malika sei. Ich hatte mich getäuscht. Tloto ist mehr als malika – er und die anderen, die gekennzeichnet wurden. Irgendwie wissen diese Leute Dinge voraus. Deshalb konnte Tloto im Dschungel am Leben bleiben. Deshalb wußte er, wo du warst, als du dich verletzt hattest. Er konnte in deinen Kopf hineinhorchen und deine Gedanken verstehen. Viele werden mit dieser Gabe geboren, und mit jedem Jahr sind es mehr. Sobald wir es erkennen, markieren wir sie. Viele versuchen es zu verbergen, und manchen gelingt es sehr lange. Kannst du das verstehen? Ja? Als Tloto mir zeigte, wo du warst, wußte er, daß ich ihn verraten würde. Er wußte, daß man ihn markieren würde. Verstehst du das?«
Wieder machte er eine Pause und sah den Jungen an. Die Augen verrieten immer noch Schmerz und Verwirrung. »Du möchtest wissen, weshalb. Ich – wir … Früher töteten wir sie, wenn wir es erkannten. Das tun wir nicht mehr. Die Narben erinnern sie daran, daß sie anders sind und doch vieles gemeinsam mit uns haben. Vielleicht ist es falsch. Es bereitet keine großen Schmerzen, und es heilt wieder. Außerdem töten wir sie nicht mehr. Wir wissen, daß sie wichtig sind …«
Plötzlich, nachdem er diesem seltsamen Jungen alles erklärt hatte, kam es dem Hünen selbst verzerrt, unrichtig vor. Dann gab er dem Jungen das, was der Junge hier in den Wäldern bekommen sollte – das, was die Herzogin gefunden hatte und für so wichtig hielt. »Ich habe mich getäuscht«, sagte Quorl. »Es tut mir leid. Morgen werde ich mit dem Priester sprechen.«
Sie wanderten durch den Wald, bis die Dämmerung den Himmel jenseits der Bäume erhellte. Einmal sah sich Quorl um und sagte: »Ich möchte dir etwas zeigen. Wir sind ganz nahe, und das Wetter ist richtig.«
Sie gingen noch ein paar Minuten, bis Quorl auf einen Blätterwall deutete und sagte: »Geh hier durch.«
Als sie sich durch das tropfende Laub zwängten, drang helles Licht in ihre Augen. Sie standen auf einer kleinen Klippe. Unter ihnen fielen die Felsen steil ab. Blaßgoldener Nebel – das gleiche Blaßgold, das der Junge an den Wolkenrändern bei Sonnenuntergang beobachtet hatte – strömte nun über den ganzen Himmel. Im Mittelpunkt flammte dunstig die Sonne, und ein Stück in der Tiefe konnten sie Wasser glitzern sehen – grün wie Magnesium, das auf einer Kupferfolie verbrannte.
»Das ist ein See, der zwischen den Bergen liegt«, sagte Quorl und deutete zum Wasser hinunter.
»Ich dachte, es sei das Meer«, meinte der Junge leise. Seine Zunge stolperte noch über die rauhen Laute der neuen Sprache.
Neben ihnen tauchte Tlotos Mißgestalt auf. Auf seinem Nacken und Rücken glänzten Wassertropfen. Das Blut war getrocknet. Er wandte den Kopf im goldenen Licht hin und her und konnte bei all seinem Wissen nicht das erkennen, was den Jungen so ehrfürchtig machte.
9.
Clea hatte vor drei Tagen ihr Büro im Regierungsgebäude bezogen. Das Notizbuch mit ihren privaten Arbeiten lag genau vierundfünfzig Sekunden im Schreibtisch versperrt, als sie die erste Entdeckung machte, die ihr einen Platz neben Toromons größtem Kriegshelden einräumte. Plötzlich schlug sie mit der Hand auf den Computer, warf den Bleistift quer durchs Zimmer und murmelte: »Verdammt nochmal!« Dann rief sie das Kriegsministerium an.
Es dauerte zehn Minuten, bis man sie mit Tomar verband. Als er sie am Visifon erkannte, grinste er breit. »Hallo«, sagte er.
»Auch hallo«, entgegnete sie. »Ich habe mir eben die Informationen eurer Leute über die Strahlungsbarriere besorgt und sie mit den alten Messungen in der Stadt Telphar verglichen. Tomar, ich mußte sie nicht einmal in den Computer speisen. Auf den ersten Blick war mir klar, daß die Strahlung künstlich geschaffen wurde. Der Anstieg ist vollkommen gleichmäßig, zumindest bei der zweiten Ableitung. Dem ganzen
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