Sklaven des Himmels
Er stellte fest, daß er Arme und Beine frei bewegen konnte. Aber er wollte es gar nicht. Dafür war er viel zu müde.
Er kratzte sich am Ohr und merkte, daß etwas wie ein kleines Steinchen sich in der Ohrmuschel befand. Er gähnte, versuchte es herauszuholen. Aber es war so glatt, daß es sich nicht fassen ließ. Es spielte ja auch keine Rolle, schließlich tat es ihm nicht weh. Und später, wenn er weniger müde war, würde er es schon herausbekommen.
Die Stimmen in seinem Kopf sagten ihm, er solle schlafen, er habe nichts zu befürchten. Sie hörten sich sehr mitfühlend an. Er war überzeugt, daß sie die Wahrheit sprachen. Ein wenig überraschte es ihn, daß er sie so gut verstehen konnte, obgleich ihm die Sprache fremd war. Er befolgte ihren Rat und schlief wieder ein.
Die Stimmen fuhren fort zu sprechen und hin und wieder zu flüstern. Es störte ihn nicht. Manchmal hörte er ihnen zu, manchmal auch nicht. Plötzlich schwiegen sie. Er wartete, daß sie wiederkämen, aber das war nicht der Fall. Irgendwie überraschte ihn das gar nicht.
Er fühlte sich wach und ausgeruht und stark. Von seiner Schulterverletzung war nichts mehr zu spüren oder zu sehen. Er entsann sich des glatten Steinchens im Ohr und wollte es herausholen. Aber es war nicht mehr da. Vielleicht hatte er es nur geträumt. Es war ihm gleichgültig. Er fühlte sich großartig.
Er erinnerte sich an alles, aber irgendwie schien es keine große Rolle mehr zu spielen. Es war, als gehörten seine Erinnerungen einer anderen Welt, einem anderen Leben an.
Vielleicht war er tot. Wenn ja, war dieses Leben nach dem Tod recht angenehm. Vielleicht war er an dem Ort, den die Alten Himmel nannten?
Er hing seinen Gedanken nach, als ein Nachtgänger die Kammer betrat. Er hielt einen Becher in der Hand.
»Trink das, Herr«, sagte er. Er hatte kein Gesicht, keine Augen, keinen Mund. Und doch waren die Worte klar verständlich, auch für Berry, obwohl sie nicht in der Sprache seines Stammes waren.
Er nahm den Becher. »Welcher Art ist dieser Trunk?« fragte er.
»Willst du die chemische Formel wissen, Herr?«
Berry erkannte die Worte »chemische Formel« und wunderte sich, daß sie ihm nicht fremd waren, obgleich sie keinerlei Bedeutung für ihn hatten. Auch er redete jetzt in dieser merkwürdigen Sprache, die ihm auf seltsame Weise vertraut erschien. »Ich will wissen, ob der Trunk mich vergiften oder wieder hilflos machen wird, das ist alles, Nachtgänger. Du bist mein Feind und hast mich dem Tod nahegebracht – wenn ich nicht bereits tot und in der Welt bin, wo die Toten angeblich hausen –, deshalb frage ich nach der Art des Trunkes. Ich weiß, daß du mir vielleicht nicht die Wahrheit antworten wirst, aber das ist ein Problem, das ich selbst lösen muß.«
»Herr, das Getränk wird dir guttun. Es wird dir Kraft geben und dir die Angst nehmen. Verzeih, wenn ich deine Worte berichtige, aber ich bin nicht dein Feind, und ich habe dich auch nicht dem Tod nahegebracht. Außerdem bin ich programmiert, die Wahrheit zu sagen.«
»Und was ist, wenn ich mich weigere, diesen Trunk zu nehmen?«
»Ich habe nicht das Recht, dich dazu zu zwingen, Herr.«
Hier war wenigstens etwas, womit Berry ihn auf die Probe stellen konnte. Er hielt den Becher schräg und goß seinen Inhalt auf den Boden. Der Nachtgänger machte keine Anstalten, ihn davon abzuhalten.
»Es ist bedauerlich, daß du das Getränk nicht zu dir nahmst. Es wurde extra für Menschen unter Streßnachwirkungen hergestellt.«
Berry war verwirrt. Er starrte auf das Gesicht, das keines war, und versuchte, eine Gefühlsregung darauf festzustellen. Aber das war unmöglich, denn dieses Nichtgesicht war aus Metall. »Bist du denn nicht ergrimmt, weil ich dieses Zeug nicht getrunken habe?«
»Nein, Herr. Ich kann keinen Grimm empfinden.« Die Stimme klang so ruhig wie zuvor. »Vielleicht willst du es neu erwägen? Soll ich dir noch einmal eine Dosis bringen?«
Berry verstand zwar die Bedeutung der Worte nicht, wohl aber, daß er den Nachtgänger mit seiner Handlung nicht zur Wut gereizt hatte. Wagemutig beschloß er einen weiteren Versuch. Er spuckte der Kreatur auf die Silbermaske. Würde er einem Stammesbruder ins Gesicht spucken, bedeutete das eine Herausforderung, die nur mit dem Tod gerächt werden konnte. Er spannte seine Muskeln, bereit, sofort zur Seite zu springen, wenn die Metallhände nach ihm griffen.
Aber der Nachtgänger tat überhaupt nichts. Der Speichel sickerte die Maske herab. Er
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