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Skorpion

Skorpion

Titel: Skorpion Kostenlos Bücher Online Lesen
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weinten, aus Gründen, die niemand herausfinden konnte, und natürlich hatte Rod Gordons Mutter am Ende gehen müssen, weil sie unentwegt geweint hatte. Aber er war sich immer irgendwie sicher gewesen, dass Marisol nicht so war, dass sie anders war, ebenso wie er auf unbestimmte Weise stolz auf ihre dunkle Haut war und wie ihre Zähne weiß in ihrem Gesicht glänzten, wenn sie lächelte, und wie sie auf Spanisch im Haus sang. Marisol ist etwas Besonderes, weiß er. Entdeckt es eigentlich das erste Mal jetzt. Wissensfetzen, nicht hinterfragt, auf Treu und Glauben hingenommen, fallen jäh zu einem festen Klumpen des Verständnisses in sich zusammen, der wie eine Wunde in seiner Brust sitzt. Plötzlich springt sie in den Fokus seines Bewusstseins. Er sieht sie auf der anderen Seite der Maschen und des rasiermesserscharfen Drahts, und es ist wie zum ersten Mal.
    Sie hebt die Hand, langsam, als ob sie in einer Klasse wäre und nicht genau wüsste, ob sie die Antwort wirklich weiß oder nicht. Sie winkt ihm zu.
    »Ich möchte mit ihr reden«, sagt er zu dem Onkel.
    »Ich fürchte, das geht nicht, Carl.«
    »Ich möchte es.«
    Der Onkel löst sich vom Zaun, runzelt die Stirn. Der Maschendraht springt mit einem weiteren metallischen Beben zurück. »Du weißt bereits, dass du so nicht sprechen sollst. Deine Wünsche sind etwas Geringes in dieser Welt, Carl. Du bist wertvoll wegen dem, was du tun kannst, nicht wegen dem, was du willst.«
    »Wohin bringt ihr sie?«
    »Sie geht weg.« Der Onkel steht vor ihm, überragt ihn. »Alle gehen weg. Sie hat jetzt ihre Arbeit erledigt, also kehrt sie nach Hause zurück.«
    Irgendwie hat er das bereits gewusst, trotzdem sind die Worte wie der Wind, der ihm ins Gesicht schlägt und ihm den Atem raubt. Die Beine wollen unter ihm nachgeben, Stück um Stück verliert er den Halt auf dem abgenutzten Beton unter sich. Er möchte hinfallen oder sich zumindest irgendwo hinsetzen, weiß es jedoch besser, als es zu zeigen. Er schaut über die eng zusammengedrängten Gebäude der Siedlung Osprey 18 hinaus, über die sauber aufgereihten Baracken, das Schulgebäude und die Mensa, und hier und da gehen die Lichter an, während der Nachmittag dem Abend weicht. Das öde, sanft gewellte Sumpfland an der Küste unter einem dunkler werdenden, blaugrauen Himmel, das ferne niedrige Gebirge, vom Alter glatt geschliffen. Dahinter, zum Norden hin, der kalte Atlantik.
    »Hier ist ihr Zuhause«, versucht er sich zu überzeugen.
    »Jetzt nicht mehr.«
    Jäh schaut Carl in das Gesicht des Mannes auf. Mit elf ist er bereits groß für sein Alter, der Onkel überragt ihn kaum um einen halben Kopf.
    »Wenn ihr sie mir wegnehmt, werde ich euch töten«, sagt er, diesmal mit einer Überzeugung die so tief ist wie sein gesamtes jähes Wissen über Marisol.
    Der Onkel schlägt ihn einfach nieder.
    Es ist ein kurzer, rascher Hieb ins Gesicht – später wird er entdecken, dass er ihm die Haut über dem Wangenknochen aufgerissen hat –, und allein die Überraschung schickt ihn zu Boden. Aber als er wieder aufspringt, wie man es ihn gelehrt hat, und erneut mit ungezügelter Wut auf den Onkel losgeht, blockt dieser ihn und schlägt ihn wieder, trifft ihn mit der rechten Faust tief unterhalb des Brustkorbs, sodass ihm die Luft wegbleibt. Er stolpert zurück, und der Onkel folgt ihm und versetzt ihm mit der Kante der schwieligen linken Hand einen Hieb auf die Halsseite und schickt ihn somit ein zweites Mal zu Boden.
    Er japst nach Luft, die er nicht findet. Er ist so gestürzt, dass er das Gesicht vom Hubschrauberlandeplatz und Marisol abgewandt hält. Sein Leib krümmt sich zuckend auf dem Asphalt, er versucht, sich umzudrehen, versucht zu atmen. Aber der Onkel kennt seine Druckpunkte und hat sie mit müheloser Akkuratesse gefunden. Carl vermag kaum zu zucken, ganz zu schweigen davon, sich zu bewegen. Er glaubt, Marisol müsse hinter ihm herangelaufen kommen, aber da ist der rasiermesserscharfe Zaun, der Maschendraht, da sind die anderen Tanten und Onkel…
    Der Onkel hockt sich so hin, dass er ihn sehen kann, und mustert ihn auf angerichtete Schäden. Er scheint zufrieden.
    »So redest du zu keinem von uns, nie mehr«, sagt er ruhig. »Zuallererst einmal, weil alles, was du je gehabt hast, sogar die Frau, die du für deine Mutter hältst, von uns zur Verfügung gestellt wurde. Vergiss das einfach nicht, Carl, und zeige ein wenig Dankbarkeit, ein wenig Respekt. Alles, was du bist, alles, was du geworden bist, und alles, was

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