Skorpion
Amerika hat sich über einer Vision dessen gespalten, was Stärke ist. Männliche Kraft versus weiblichem Verhandlungsgeschick. Macht gegen Wissen, Dominanz gegen Toleranz, Einfachheit gegen Komplexität. Glaube, Flagge und patriotische Lieder gegen die Neue Mathematik, die, seien wir doch ehrlich, niemand außer den Quantenspezialisten wirklich versteht. Kooperationstheorie und die neue internationale Ordnung. Und bis zum Projekt Gesetzeshüter zeigt jeder Faktor auf dem Tisch auf eine Zukunft, die so feminisiert ist, dass sie schlicht un-amerikanisch ist.«
Norton lachte widerwillig. »Du solltest Reden schreiben, Jeff.«
»Du vergisst«, sagte sein Bruder ohne ein Lächeln, »dass ich das getan habe. Wenn du jetzt an die Lage denkst, wie sie sich damals darstellte: das sinkende Schiff der Männlichkeit des Kernlands, weithin stecken geblieben in Komplexitäten, die es nicht verstehen kann, im Stich gelassen von seiner militärischen Technologie und den eigenen jungen Männern. Und dann steckst du diese neuen, großen Arsche in amerikanische Uniformen, nennst sie die Gesetzeshüter, und auf einmal gewinnen sie. Niemand weiß genau, woher sie so plötzlich gekommen sind, es wird viel geleugnet, überall, aber wer hat je einen Furz darum gegeben? Was zählt, ist, dass diese Burschen amerikanische Soldaten sind, dass sie für uns kämpfen und einmal wenigstens den Sieg davontragen. Lehn dich doch nur mal einen Augenblick zurück, Tom, und überlege, welchen Eindruck das bei all diesen kleinen Ortschaften machte, die du auf deinem Weg hierher gerade überflogen hast.«
Jeff senkte den Zeigefinger, den er gerade auf seinen Bruder gerichtet hatte, sah in sein Glas und hob die Brauen, vielleicht wegen seines eigenen leidenschaftlichen Ausbruchs.
»So verstehe ich es zumindest.«
Der Raum schien ein wenig enger zu werden. Schweigend saßen sie da. Nach einer Weile stand Jeff auf und machte sich wieder auf den Weg zum Getränkeschränkchen.
»Noch einen?«
Norton schüttelte den Kopf. »Muss noch zurück, muss früh aufstehen.«
»Du bleibst nicht über Nacht hier?«
»Na ja…«
»Mein Gott, Tom! Ist unser Verhältnis so sehr im Eimer?« Jeff wandte sich von dem Drink um, den er gerade eingoss, und nagelte seinen Bruder mit einem Blick fest. »Komm schon, zu dieser nachtschlafenden Zeit kriegst du einfach keine Fähre mehr zurück. Willst du wirklich mit einem Taxi den ganzen langen Weg um die Bay herumfahren, nur damit du nicht unter meinem Dach schlafen musst?«
»Jeff, so ist das nicht…«
»Tom, ich weiß, ich kann manchmal ein Arsch sein. Ich weiß dass. Ich weiß, dass an mir einiges ist, was du missbilligst, was Mama und Papa in deinen Augen ebenfalls missbilligen würden, aber, mein Gott, du glaubst doch nicht etwa, dass der alte Herr sein Leben lang ein Heiliger gewesen ist?«
»Ich weiß nicht«, entgegnete Norton ruhig. »Aber falls nicht, hat ihn keiner von uns je dabei erwischt.«
»Du hast mich nicht erwischt. Ich habe dir davon erzählt, verdammt!«
»Ja, und danke dafür.«
»Tom, ich bin dein Bruder, um Gottes willen! Wer hat dir eigentlich diesen verfluchten Job bei COLIN verschafft, hm?«
Norton sprang auf. »Das glaube ich nicht. Grüße Megan und die Kinder von mir. Tut mir leid, dass ich keine Zeit hatte, ihnen ein Geschenk zu besorgen.«
»Tom, warte. Warte!« Ausgestreckte Hände, beschwichtigend, Drink vergessen. »Tut mir leid, das war ein ekliger Seitenhieb von mir. Na gut, sieh mal, ich habe dir deinen Job nicht verschafft, du hast sowieso ziemlich weit oben auf der Liste gestanden. Aber ich habe in jenem Sommer zu einer Menge Ohren gut von dir gesprochen. Und ich werd’s wieder tun. Du bist mein Bruder. Meinst du nicht, dass mir das irgendwas bedeutet?«
»Megan ist deine Frau. Bedeutet dir das nicht irgendwas?«
»Mein Gott, das ist nicht dasselbe. Sie ist eine Frau, nicht wahr?« Er hielt inne und gestikulierte hilflos. »Das ist das Eheleben, Tom. So funktioniert das. Du kriegst Kinder, du wirst müde, der Lack ist ab. Du machst dich auf die Suche nach, nach… Etwas. Ich weiß nicht, etwas Frischem, etwas, das dich daran erinnert, dass du noch nicht gestorben bist. Dass ihr euch nicht in zwei harmlose kleine alte Leutchen in einem Komplex für alte Leutchen in Costa Rica verwandelt habt.«
»So siehst du Mama und Papa?«
»So sind sie, Tom. Du solltest mal öfter da runtergehen, dann würdest du das erkennen. Vielleicht würdest du dann allmählich Verständnis
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