Skorpion
Blick zu, den er allmählich wiedererkannte. Halb Ärger, unterdrückt von etwas anderem. Bei einem anderen Dreizehner hätte er Training in sozialer Anpassung herausgelesen. Hier war er sich nicht sicher, was er zu bedeuten hatte. Nur eines war klar: Etwas kratzte an Sevgi Ertekins Kanten, und zwar seit ihrer ersten Begegnung.
»Marsalis, es ist spät«, sagte sie zu ihm. »Ich werde mich nicht auf einen Streit mit Ihnen darüber einlassen, was COLIN vor zehn Jahren getan hat oder getan haben mag, bevor ich Mitarbeiterin geworden bin. Der Grund, weswegen wir uns auf dieser Müllkippe aufhalten, ist der, dass Sie sich von Ihren berühmten Dreizehner-Tendenzen zu sehr haben mitreißen lassen, und das kostet uns weitere sechs verfluchte Stunden mit Telefonaten und Verhandlungen. Also strapazieren Sie Ihr Glück nicht allzu sehr! Ich bin nahe daran, Sie zurückzuschicken.«
Er grinste. »Jetzt lügen Sie.«
»Meinen Sie? Der Direktor wollte alles bis hoch nach Tallahassee berichten und die Sache vom Komitee für Gewaltverbrechen einschätzen lassen. Er hätte Sie liebend gern eingesperrt, während die Mühlen der Justiz langsam gemahlt hätten.«
»Ich hätte geglaubt, er sei froh gewesen, mich von hinten zu sehen.«
»Na ja, da haben Sie sich geirrt. Warden Parris ist ein Ex-Marine.« Sevgi schoss ihm erneut einen Blick zu. »Genau wie Willbrink.«
»Will wer?«
»Ja, genau. Schon gut.«
Er wusste nicht, wie viel von dem, was sie sagte, der Wahrheit entsprach. Gewiss war alles viel schwerer geworden, nachdem sie gesehen hatten, was er mit Dudeck angestellt hatte. Die Eingreiftruppe hatte ihn nicht auf der Stelle betäubt, aber sie war knapp davor gewesen. Er hatte drei Stunden in dem schwach nach Ammoniak riechenden Dämmer der Zelle für gewalttätige Häftlinge verbracht, war herausgezerrt, im Eilverfahren zum Direktor gebracht und dann ebenso rasch wieder zurückgeführt worden, als spielten die untereinander konkurrierenden Behörden Pingpong. Es brauchte weitere zwei Stunden, um ihn endgültig aus dem Loch herauszubekommen, und inzwischen war es dunkel geworden, und der Verwaltungsblock war nur noch rudimentär mit Hausmeistern und Leuten vom Wachdienst besetzt.
Norton und Ertekin schritten durch Türen in Büros, die er nie von innen zu sehen bekam, und verließen sie wieder. Sie warfen kaum einen Blick in seine Richtung. Wachen kamen und gingen. Einmal erschien ein BO und machte ein Foto von ihm, das er kommentarlos mitnahm. Carl ließ alles über sich ergehen. Nachdem sie fertig waren, unterzeichnete er die Dokumente, die sie ihm reichten, zog die eigene Kleidung an, und da es vermutlich in New York kalt wäre, erschnorrte er sich von einer gähnenden Nachtwache eine Anstaltsjacke. Es war eine abgenutzte Jacke in einem Grau-Schwarz, an sich keine schlechte Farbe, aber auf einem Ärmel blitzten eine Reihe orangefarbener Winkel, und über den Rücken zog sich das übliche Sigma-Logo, darunter der Name in eben derselben grellen Farbe.
Wie so oft bei alten Beständen hatte ein Knabe, der überall seine Duftmarke hinterlassen wollte, mit einer Farbspritzpistole ein langes kleines ›t‹ in Klammern hinter das ›S‹ gesetzt. Er zuckte mit den Schultern und nahm sie trotzdem. Miami PD hatte seine Sachen in dem Hotel beschlagnahmen lassen, wo sie ihn verhaftet hatten, und er ging nicht davon aus, dass er sie je wiedersehen würde. UNGLA verhandelte offenbar nach wie vor über die Rückgabe der Haag-Pistole und ihrer Munition. Sache des Prinzips, Sache des Stolzes. Niemand glaubte ernsthaft, dass sie gewinnen würden. Er streifte sich die Jacke über, rollte den kurzen Streifen mit seiner persönlichen Habe zusammen, den er zusammen mit der Kleidung erhielt, in der er verhaftet worden war, und trat hinaus.
Scheiß auf die Accessoires, Carl! Du bist auf halbem Weg nach Hause!
Die ganze Strecke zu dem harmlosen Miettropfen auf dem Parkplatz hatte er einen Norton mit grimmigem Gesicht an seiner Seite. Er öffnete ihm die Tür zum Rücksitz und schloss sie, sobald er drinnen war. Wenige Minuten später verließ Ertekin das Verwaltungsgebäude, brummte ihrem Partner etwas zu und setzte sich dann hinters Steuer. Als sich Norton neben ihr niedergelassen hatte, gab sie Gas und lenkte den Wegen per Hand zu den Gefängnistoren hinaus. Keiner der beiden COLIN-Angestellten würdigte Carl eines Wortes.
Direktor Parris, wenn er überhaupt noch da war, ließ sich nicht blicken.
Wenige hundert Meter die Straße runter
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