Skorpionin: Odenwal - Thriller (German Edition)
als ihr Peiniger jemals vordringen konnte. Tief in ihrer Seele war ein zartes, silbernes Bändchen für immer durchtrennt worden.
Deine Mama liebt mich
… Niemals würde sie sie in ein Heim geben. Nie in ihrem Leben! Oder? Zweifel krochen durch ihren Kopf wie müde Schlangen. Langsam, unaufhaltsam, zerfressend, zersetzend, nisteten sich ein und pulsierten mit fast unhörbarem Pochen. Stetig, für alle Zeiten…
Mühsam rappelte sie sich auf. Als sie die klebrige Bettwäsche berührte, kroch ein heißes Würgen ihren Hals herauf. Sie taumelte ins Bad, erbrach sich auf den spiegelnden Marmorboden und kauerte über eine Stunde lang in der stinkenden Lache. Dann kroch sie auf allen Vieren in die Dusche, klammerte sich an den schimmernden Haltegriff und regulierte die Wassertemperatur. Es brannte wie flüssiges Feuer, doch sie hielt nicht inne. Sie schrubbte, rubbelte und tupfte, bis sie eine ganze Flasche Duschgel geleert hatte. Danach putzte sie den Fußboden und stopfte Handtücher, Bettwäsche und ihre zerrissene Kleidung in einen großen Müllsack. Im Schlafzimmer hing immer noch der Geruch von Schweiß, Sperma und Bier. Es war dasselbe Schlafzimmer, in dem sie sonntags immer mit Mama und Papa gekuschelt hatte. Damals, als sie noch klein war. Damals, als Papa noch da war. Damals, vor zehn Millionen Jahren …
Leise schlich sie in ihr Zimmer. Unten dröhnte der Fernseher. Morgen würde ihr „Prinz“ wieder zu ihr kommen. Morgen. Doch dann wäre sie nicht mehr hier … Die Schlangen pochten leise in ihr.
Ganz hinten im Schrank, unter einer Schutzhaube, hing ihr Kostüm vom letzten Ballettabend.
Lieber Papa
,
dies ist mein letzter Brief an Dich. Ich komm jetzt zu Dir. Da, wo Du bist, soll es doch so schön sein. Wir sind dann für immer zusammen. Tom hat gesagt, ich komm ins Heim, weil die Mama ihm glaubt und mir nicht. Die Mama liebt ihn. Bestimmt schicken sie mich ins Heim. Tom hat mir sehr weh getan und gesagt, im Heim machen sie noch viel schlimmere Sachen mit mir. Er lügt und will Mama erzählen, ich hätte schlimme Sachen gemacht. Bestimmt glaubt sie ihm. Lieber Papa. Ich habe hier niemanden mehr. Ich komme jetzt zu Dir. Du kannst ja dort auf mich warten. Du weißt schon, da, wo es passiert ist. Dann muss ich Dich nicht suchen. Ich hoffe, Du erkennst mich noch. Ich bin doch jetzt schon groß. Ich mach mich auch ganz fein für Dich. Du wirst staunen
.
Lieber Papa, ich freu mich so auf Dich. Bis nachher. Du kannst ja schon mal langsam losgehen
.
Deine Cap
2007
Sie nahm den Schlüssel aus ihrer Tasche und steckte ihn ins Schloss. Es war ein altmodischer Schlüssel mit Bart und langem Stiel. Sie hatte bei der Renovierung des Gebäudes darauf bestanden, dass so viel wie möglich von der alten Substanz erhalten blieb. Die Türen waren schon etwas verzogen und mussten teilweise abgeschliffen werden, damit sie überhaupt wieder richtig schlossen. Aber es waren herrliche alte Zimmermannsarbeiten mit Kassetten aus Edelholz und gedrechselten Verzierungen. Die Klinken waren elegant geschwungene Messingstücke, die sie selbst auf Hochglanz poliert hatte.
Ihre linke Hand fasste an das kühle Metall und zog die Tür ein wenig nach außen, damit das hakelige Schloss besser aufging. Dieses Zimmer war als Einziges immer verschlossen. Selbst Elfriede und Josef Schmidt, die das Schloss in Stand hielten, hatten strikte Anweisung, diesen Raum niemals zu betreten. Er war absolut tabu. Ein Schrein, eine Stätte, an die ihre Tochter zurückkehren konnte, wann immer sie wollte.
Im Augenblick schlief sie zusammengerollt auf der Seite, den Kopf auf dem linken Arm, den rechten entspannt auf der Decke liegend. Eine Lockenflut umrahmte ihr Puppengesicht. Ein feines Lächeln lag auf ihren Lippen und die Frau hielt unwillkürlich den Atem an, um sie nicht zu wecken.
1997
Sie spürte weder die Kälte noch die Nässe, die durch ihre dünnen Stoffschuhe drang. In ihr war eine wohlige Wärme, die im Rhythmus ihres Herzschlags pulsierte. Ihr Herz und ihre Füße im Gleichschritt. Tapp-tapp, bum-bum, tapp-tapp, bum-bum. Immer weiter die glitzernde Spur des Mondlichts verfolgend. Immer weiter durch die eisige Winternacht. Tapp-tapp, bum-bum.
Die schneeschweren Äste der Bäume bildeten ein schweigendes Spalier. Der schon fast volle Mond zauberte funkelnde Reflexe auf das Diadem in ihrem Haar. Das lange weiße Kleid war am Saum, wo es ab und zu die Straße streifte, nass und verschmutzt. Die dünnen Handschuhe mit den
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