Skorpionin: Odenwal - Thriller (German Edition)
paillettenbesetzten Stulpen boten keinerlei Schutz vor der Kälte.
Die zierliche kleine Gestalt lief mit raschen Trippelschritten. Das lange Ballkleid vermittelte den Eindruck, als ob das Mädchen schwebe. Eine feenhafte Szene wie aus einem Märchen. Einem Märchen, in dem es Prinzessinnen gab. Sie hatte sich hübsch gemacht, sich geschminkt und eine volle Stunde lang ihr Haar gekämmt. Dann hatte sie gewartet, bis es ganz still wurde im Haus. Bis der Fernseher endlich verstummte, eine Bierflasche über das Parkett kollerte, begleitet von wüsten Flüchen, und die Wasserspülung im unteren Badezimmer rauschte. Er schlief immer unten, wenn die Mama nicht da war. Das große Schlafzimmer war reserviert. Für seine Prinzessin. Sie war es auch, die immer die Betten frisch beziehen, den Boden wischen und sorgfältig sämtliche Spuren seiner perversen Rituale tilgen musste. Er kontrollierte streng. Die Strafen für Nachlässigkeiten folgten auf dem Fuß. Dann gab es noch mehr zu putzen …
Hatte er womöglich recht? War sie vielleicht selbst verdorben und böse? Niemals würde die Mama ihr glauben. Sie würde sie auslachen und ihn küssen. Ihn! Der sie jahrelang betrogen hatte, der ihre kindliche Dummheit dazu benutzt hatte, sich mit ihr zu vergnügen. Sie hatte ihm alles geglaubt. Das mit der Prinzessin, dem Pony, den schrecklichen Krankheiten, von denen er sie nur heilen konnte, wenn er sie untersuchte. Sie lügen alle, hatte sie gedacht. Marie und die anderen. Jonas, der ihr Bilder gezeigt hatte. „Geile Bilder, die werden dir gefallen“, hatte er gesagt. Sie hatte kaum einen Blick darauf geworfen. Sie sah nackte Menschen mit verzerrten Gesichtern, rotes Fleisch und haarige Bäuche. Sie lügen, wenn sie sagen, dass es schön ist. Sie lügen alle.
Tränen liefen ihr über die Wangen. Freudentränen. Es war nun nicht mehr weit. Tapp-tapp, bum-bum. Ihr Atem stieß kleine weiße Wölkchen vor ihr her, das Kleid raschelte.
„Ich komme zu Dir, Papa. Ich bin schon unterwegs.“ Tapp-tapp, bum-bum. Kleines Herz, schlag nicht so schnell. Kleine Füße, tragt mich weiter.
Kein Vogel sang, nicht einmal der Ruf des Kauzes war zu hören, als das Mädchen ihr Ziel, den gähnenden Abgrund, erreichte. Daneben stand das schlichte Holzkreuz. Das Kreuz, an dem sie so oft Blumen niedergelegt hatten. Sie und ihre Mama. Die Mama, die sich anfassen ließ von ihm. Die tat, als gefiele ihr das, damit er sie nicht schlug. Mit klammen Fingern griff das Mädchen in die kleine Tasche seines bauschenden Rockes und zog ein mehrfach gefaltetes, zerknittertes Blatt hervor. Sie legte den Brief vor das Kreuz und deckte ihn sorgfältig mit einem Stein ab. Mit letzter Kraft kletterte sie auf einen der weißen Steinquader. Der feuchte Saum des Kleides schlug gegen ihre Fesseln, der Ostwind drang scharf durch den zarten Stoff, doch er erreichte nicht ihr Herz. Allein. Die ganzen Jahre war sie allein gewesen. Allein mit ihm …
Eine warme Glut wallte durch ihren Körper, als sie die Arme ausbreitete und zu ihrem Papa flog. Keine Schmerzen mehr. Nie wieder Angst haben. Nie wieder allein!
Zwanzig Meter tiefer prallte ihr zarter Körper mit fürchterlicher Wucht auf einen kantigen Felsquader, wurde herumgeschleudert, das zerfetzte weiße Kleid färbte sich rot, dann verschwand sie in der gnädigen Finsternis des fast zweihundert Meter tiefen Abgrundes. Kein Schrei, kein Laut, drang aus ihrem Mund …
Sanft und wohlbehalten wurde sie von den starken Armen ihres Vaters aufgefangen. Sie roch den Duft seines Rasierwassers, spürte seinen Herzschlag und seinen Pfefferminzatem, der ihr Haar streichelte. Niemand würde sie jemals wieder voneinander trennen.
2007
Das Trugbild verschwand genauso wie der Geruch von Apfelshampoo und Maiglöckchenparfüm. Das Zimmer roch muffig, nach altem Staub und etwas säuerlich. Die Frau öffnete das Fenster, strich die Tagesdecke glatt und betrachtete die Bilder an der Wand. Pferde, Katzen und ein grobkörniges, vergrößertes Urlaubsfoto, auf dem sie alle drei lachend in einem Café saßen. Noch hatten die Boy-groups nicht hierher gefunden.
Die Frau öffnete den Kleiderschrank, ein Bauernschrank, den sie und ihre Tochter gemeinsam bemalt hatten. Schreiend bunte Blumen auf blauem Grund. Bestimmt würde sich Paula über die schönen Kleider freuen. Paula … Rechts neben dem Schrank stand ein kleiner Schreibtisch. Staub. Sie würde den Staubsauger aus der Kammer holen. Danach würde sie den bunten Flickenteppich im Garten
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