SLAM (German Edition)
Unterton, eine leise Trauer, rauer und brüchiger als zu vor. Nun wirkte er wirklich alt. D ie Falten in seinem Gesicht warfen Schatten und formten eine Landschaft aus Bergen und Tälern, Rinnen und Schluchten, gegraben in Sonnenjahren und unzähligen Wüstennächten.
» Sie trugen mich zu Grabe und gaben mir neben den Büchern, die ich am meisten geliebt hatte , auch noch andere Erinnerungen an mein Leben mit au f meine letzte Reise. E s ist heute nicht mehr üblich , aber zu meiner Zeit entsorgte man Verstorbene nicht, man besta ttete sie mit großer Ehrfurcht. Sie bauten mir ein kleines Mausoleum, und schon bald siedelte sich eine Madrasa an. Dort lehrte man Generationen von Schülern, las in meinen Werken und diskutierte über Gott, die Welt und die Frage, was Allah von uns erwartet, wie wir ihm gefallen können. So gedachten sie meiner eine lange, lange Zeit .«
»Aber du lebst!«, sagte Kari m . All das hier war unwirklich, wie ein Ruf aus einer vergessenen Zeit , und obwohl es sich real anfühlte , wusste er doch, dass es sich wieder nur um eine Täuschung handelte . Das hier konnte nicht die ganze Geschichte seines Freu ndes sein .
Erneut spürte er BEYs sanfte P ergamenthand an seinem Gesicht. »Nicht so ungeduldig, mein lieber Junge . Lass mich weitersprechen, dann wirst du es verstehen. HAVVA2 war es. Sie hat mich erschaffen – wieder erschaffen. «
»Was?«
» Irgendwann um das 24. Jahrhundert begann HAVVA2 darüber nachzudenken, eine neue Gesellschaft zu kreieren, und forschte nach Zeugnissen der alten Größe des Islam. Dabei muss sie auf meine Aufzeichnungen gestoßen sein , und hielt meine Ansichten für interessant genug, um sich auf die Suche nach mir zu machen. Sie fand meine letzte Ruhestätte und barg alles, was noch übrig war. Hätte man mich damals in der Erde zur letzten Ruhe gelegt, hätte sie wohl kein Glück gehabt. Aber meine Gebeine und Teile von meinem Haar lag en in dem Mausoleum, geschützt vor jeglichen Umwelteinflüssen. G enug Genmaterial für sie, um mich daraus auferstehen zu lassen .«
» HAVVA2 hat dich wiederbelebt? « Karim war fasziniert und erschrocken zu gleich . Einen Menschen, den Allah zu sich gerufen hatte, ließ man in Frieden ruhen, man entsorgte seinen Körper, damit keine Schändung möglich war. Die Vorstellung, noch Jahrtausende nach dem Tod aus dem Grab gerissen zu werden, jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
» Glaub m ir, ich war sogar geschmeichelt , als sie mich zurückholte. Na ja, vielleicht ist berauscht sogar der bessere Ausdruck. Leider gab HAVVA2 mir nicht einfach ein neues Leben, das ich leben durfte, wie es mir gefiel, denn sie wollte einen Geist, den sie kontrollieren konnte . Sie wollte eine Schnittstelle zur Außenwelt. So schuf sie mich als Mischwesen, halb Mensch, halb Teil ihres Systems , mit eigenem Willen, aber ohne die endgültige Fähigkeit, Dinge wirklich verändern zu können . Aber das alles w ar mir zu Beginn vollkommen gleichgültig, Karim. Ah …« Er seufzte schmerzlich. »I ch beging eine schwere Sünde. Denk an die Nachtreise des Propheten. Weißt d u, was ich meine? «
» Su re 17, Vers 37: › Und gehe nicht übermütig auf der Erde einher. Du wirst ja die Erde nicht aufreißen noch die Berge an Höhe erreichen .‹«, sprudelte es aus Karim hervor. » Du hast dich der Sünde des Hochmuts schuldig gemacht .«
BEY nickte. » Ich war blind, Karim, blind vor Hochmut. Ich bildete mir ein, dies sei meine Chance, an der Schaffung der perfekten islamischen Gesellschaft mitzuwirken . Ich war begeistert von ihren Idee n , unterstützte, ja bestärkte sie sogar darin. Wir diskutierte n en dlos , mach t en Pläne , wie wir gemeinsam das große Werk vollbringen könnten. Ich war es, der all das umsetzte, was wir im Lauf der vielen, vielen Jahre beschlossen haben. S ie brauchte mich , und ich war ihr ein willfähriger Diener. Ich trennte Frauen von Männern, ich löschte die Erinnerung an Fr auen aus der Geschichte. All dies ist mein Werk, mein Tun , und ich war sogar noch stolz darauf. Wie groß meine Verblendung war , kannst du daran erkennen, dass ich etwas Undenkbares, Unfassbares tat: In Wahrheit war ich es, der das Heiligste, das Wichtigste änderte, das wir besitzen. Ja, i ch veränderte die Schrift, ich veränderte die Worte, die Mohammed, möge er in Frieden ruhen, uns gegeben hat ! Allah möge meiner Seele gnädig sein. «
Die letzten Worte glichen eher einem Schluchzen, im verblassenden Schein der
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