Slide - Durch die Augen eines Mörders
Streicheln beruhigt mich zwar, ändert aber nichts an den Schluchzern, die das Mädchen, in das ich gewandert bin, ausstößt. Sie heult sich fast die Seele aus dem Leib, ringt dann nach Luft, bis es sich anfühlt, als würden ihre Lungen explodieren. Die rosa Wände, die mit gerahmten Bildern von Ballerinas geschmückt sind, scheinen näherzurücken.
Eine Frau mittleren Alters, vermutlich die Rückenstreichlerin, kommt in Sicht. Sie hat runde, gerötete Wangen und streichelt dem Mädchen mit einer weichen Hand übers Haar.
So sind Mütter.
»Liebes, diese Mädchen tun dir nicht gut. Das habe ich dir doch schon oft gesagt.«
Das Mädchen weint noch mehr. Ich kann kaum durch ihre Tränen sehen.
»
Sophie
«, sagt die Frau.
Da dämmerte es mir: Ich stecke in Sophie Jacobs. Was habe ich denn berührt, das ihren Abdruck trägt? Vermutlich war sie oft genug bei uns zu Hause. Hat auch in diesem Fernsehsessel gesessen.
Dann erinnere ich mich an die Begegnung vor dem Spind heute Morgen. Amber und Mattie. Wer sonst könnten »diese Mädchen« sein? Sie haben Sophie irgendwie hintergangen, weil sie ihr »eine Lektion erteilen« wollten. Aber wie? Was haben sie ihr angetan?
»Ich verstehe es nicht«, schluchzt Sophie. »Warum sind sie so gemein? Ich dachte, sie wären meine
Freundinnen
.« Sie wischt sich die Augen an der Tagesdecke ab, und ich kann einen Moment lang klar sehen. Ihre Mutter steht ganz in der Nähe. Sie legt einen Zeigefinger unter Sophies Kinn und hebt ihren Kopf an. Sieht ihr genau in die Augen.
»Hör zu, Sophie. Echte Freundinnen würden niemals das tun, was diese Mädchen getan haben. Verstehst du das? Und dann auch noch an deinem Geburtstag. Das sind doch Ungeheuer. Am besten, du vergisst sie. Sei stark. Das ist das Beste für dich.«
Was haben sie getan? Was haben Mattie und Amber Furchtbares getan?
»Ich bin aber nicht stark, Mom«, flüstert Sophie.
Ein Bild zuckt durch meinen Kopf: Sophie, die vor der Toilette kniet. Ich frage mich, ob sie das meint. Ich würde am liebsten eingreifen, ihre Gedanken herausziehen und wie einen Film untersuchen. Aber so viel Macht besitze ich nicht. Ich bin nur ein Passagier. Eine Zeugin.
»Du bist stärker, als du denkst«, sagt ihre Mutter energisch.
Allmählich beruhigt sich Sophies Atem. Ihre Mutter streckt die Hände aus, und sie greift danach. Sie fühlen sich weich an. Ich will nicht, dass sich ihre Mutter so gut anfühlt. Ich will nicht wissen, was mir entgeht.
»Na komm, wir essen Schokoladeneis. Mir fällt erst jetzt auf, wie dünn du geworden bist.«
Sophie erstarrt. Wieder sehe ich sie vor der Toilette knien. Etwas in ihr zerbricht. Aber dann entspannt sich ihr Körper, die Entscheidung ist gefallen. Sie lässt sich von ihrer Mutter aus dem Zimmer führen.
»Sylvia?«
Rollins’ Gesicht ist nur Zentimeter von meinem entfernt. Ich liege ausgestreckt auf dem Boden, und er beugt sich besorgt über mich. Er zieht mich hoch, bis ich sitze, und seine Finger berühren etwas an meinem Handgelenk.
Das Armband, das Sophie für Mattie gemacht hat. Ich muss es mir übergestreift haben. Deshalb bin ich in sie gewandert. Sie muss beim Flechten einen emotionalen Abdruck darauf hinterlassen haben. Ich ziehe es aus und werfe es auf den Couchtisch.
»Was ist das? Bist du jetzt Cheerleaderin?«
Ich reibe mir die Schläfen. »Bloß nicht. Das war für Mattie. Aua, mein Kopf.«
Rollins massiert mitfühlend meine Schulter. »Zweimal an einem Tag. Du musst erschöpft sein.«
»Und wie«, seufze ich. Jeden Tag wird der Drang, mich ihm anzuvertrauen, stärker. Rollins weiß doch sonst alles über mich. Alles, nur nicht
das
. Er ist ein durch und durch logisch denkender Mensch. Wenn ich ihm erzähle, dass ich in den Kopf anderer Leute wandere, würde er mich auslachen.
Oder nicht?
Ich schaue in seine braunen Augen und frage mich, ob ich ihn falsch eingeschätzt habe. Vielleicht kann ich es ihm doch erzählen. Vielleicht würde er mich verstehen.
»Klingt es verrückt, wenn ich …« Ich halte inne, weiß nicht weiter. Mir fällt ein, wie mein Vater mich angesehen hat, als ich ihm vom Wandern erzählte – als hätte ich behauptet, dass mich nachts Außerirdische besuchten.
»Es tut mir leid.« Ich rücke von ihm weg. »Ehrlich. Es geht mir gut.«
Er sieht enttäuscht aus. Als hätte ich ihn im Stich gelassen. Er möchte, dass ich mich ihm anvertraue – aber ich kann es nicht. Ich kann es einfach nicht.
»Ich gehe dann mal.« Er nimmt seine
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